Wie erwartet und erhofft bekam er keine Antwort. Stattdessen zog sich Gott ohne ein weiteres Wort aus ihren Köpfen zurück, sodass sie wieder Herren über ihre eigenen Gedanken waren.
Herren. Das Wort versetzte Metatron einen Stich und er wusste nicht warum. Er versuchte es zu ignorieren und machte das Wort dadurch nur noch präsenter in seinem Kopf, bis es sich von allein wiederholte und als endloses Echo durch seinen Verstand hallte. Er spürte sich kaum die Treppenstufen heruntergehen und Sandalphon nach draußen folgen. Sein Bruder drückte die Tür auf, ließ Metatron als Erstes hinaus und holte dann direkt zu ihm auf.
»Wie kann er glauben, dass wir das annehmen?«, fragte Sandalphon, laut genug, dass ihn hier theoretisch alle hören könnten. Praktisch waren Michael und Satan unterwegs und da sie Seraphiel nicht im Turm angetroffen hatten, dürfte der sich ausruhen oder schlafen. »Wie kann er glauben, dass wir uns freiwillig an ihn binden? Wir dürften nicht einmal eine eigene Meinung haben, wenn wir-«
»Das wissen wir nicht«, widersprach Metatron und schob dem Redefluss kurzfristig einen Riegel vor. »Sag mal…«
»Ja?«
»Tut mir leid, dass ich dich unterbreche«, sagte er. Am liebsten hätte er das Thema ganz vermieden, aber diese verfluchten Fragen… »Als was siehst du Gott?«
Sandalphon stutzte. »Wie bitte?«
Metatron zögerte. Er konnte die Sache kaum beschreiben und musste sich mühsam zu einem Versuch überreden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er eine vernünftige Formulierung fand. »Alle sprechen Gott so an, wie sie selbst angesprochen werden wollen, richtig?«
Sandalphon nickte und machte nicht den Eindruck, als würde er verstehen.
»Geht dir das auch so?«
»Natürlich. Gott spricht mit meinen Gedanken, ihn anders als mich anzusprechen, fühlt sich falsch an. Wie kommst du überhaupt darauf?«
›Ich weiß nicht, als was ich mich bezeichnen soll‹, dachte Metatron und dieser Umstand kam ihm so unfassbar lächerlich vor. Hoffentlich war er einfach nur verschlafen. »Nicht so wichtig«, murmelte er und überließ seinem Bruder wieder das Feld.
»So einen Schwur kann ich nicht leisten«, sagte Sandalphon. »Und wenn Gott uns die Wahl lässt, muss er damit rechnen, dass ich es lasse.«
›Du sagst das so leicht‹, dachte Metatron. ›Du hast ihn doch gehört, wir sind geschaffen worden, um ihn zu vertreten. Was für einen Sinn haben wir denn, wenn nicht den? Du hast ja recht, aber…‹
Er fühlte sich der Sache hilflos ausgeliefert, jedem noch so freien Willen zum Trotz. Es wäre ihm lieber, jemand anders würde die Entscheidung für ihn treffen und die Angelegenheit damit erledigen.
Ohne ein weiteres Wort ging Sandalphon zu ihrer Wohnung und ließ Metatron mit sich und seinen Gedanken allein. So viele Fragen. Es kam ihm vor, als müsste er für jede eine Antwort haben, doch er wusste keine einzige.
10
Dorian
3. November
Hölle
Als Dorian den Ruf spürte, erfüllte ihn nichts als Erleichterung. Natürlich könnte es seinen sicheren Tod bedeuten, aber selbst für das Bisschen Aufmerksamkeit gäbe er gerade alles.
Zitternd strich er seinen Mantel glatt, auch wenn das kaum etwas brachte. Die ziellose Wanderschaft der letzten Tage hatten dem Kleidungsstück zugesetzt, und obwohl es noch funktional war, kam es Dorian vor, als hätte es jeglichen Schutz verloren. In jeder Sekunde fühlte er sich bloßgelegt, beobachtet und gleichzeitig von Luzifer und der Welt verlassen.
Dorian schloss die Augen und wünschte sich weg aus dieser Sackgasse. Luzifers Verlangen nach ihm wies ihm den Weg.
Einen Moment später tauchte er in einem der größten und am häufigsten frequentierten Räumen in diesem Höhlensystem auf. An allen Wänden hingen Fackeln und Kerzen, die mehr Licht spendeten als es für die Hölle üblich war. Unter einem verhältnismäßig großen Fenster stand eine stets verschlossene Kommode aus glattem Stein, in der gegenüberliegenden Ecke ein gepolsterter Sessel wie ein Thron. Der Boden war größtenteils mit einem dunklen Teppich bedeckt, der die Angewohnheit besaß, auch das kleinste Geräusch zu verschlucken. Im Laufe der Zeit hatten sich einige Flecken unterschiedlichen Ursprungs darauf angesammelt, die sich nur noch durch Herausbrennen entfernen ließen – Dorian wusste das, denn er war für manche dieser Flecken verantwortlich. Sein Bauch krampfte sich auf eine eigenwillige Weise zusammen, wenn er daran dachte.
Luzifer saß mit sichtlicher Ungeduld im Gesicht auf seinem Sessel, die Beine überkreuzt, den Kopf auf eine Hand gestützt. Als er den Blick auf Dorian warf, hob er eine Augenbraue und lachte trocken auf. »Sieh an, wer als Erstes hergekommen ist.«
Entweder hatte er gute oder abgrundtief schlechte Laune, und Ersteres konnte sich Dorian gerade nicht vorstellen. Er senkte den Kopf und kämpfte gegen die wachsende Panik an. »Wie kann ich-«
»Sei still.«
Dorian nickte hastig und blieb reglos stehen. Einen Augenblick später erschienen zwei weitere Leute im Raum. Lucian hatte die Mantelkapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass es komplett im Schatten lag, Adrian sah aus, als hätte er sich auf dem Weg hierher durch einen Hurrikan gekämpft. Razvan tauchte nur einen Augenblick später zu Dorians Rechten auf und würdigte ihn keines Blickes. Als Einziger von ihnen trug er keinen Mantel, sondern eng anliegende Hosen und ein Hemd mit hohem Kragen. Die langen, pechschwarzen Haare hatte er in unzählige, dünne Braids geflochten. Für gewöhnlich schickte Luzifer ihn auf besondere Aufträge, über die er kein Wort verlor, und wenn er Menschen töten sollte, dann meistens zusammen mit Janne. Der erschien schließlich als Letzter im Raum und gab sich größte Mühe, hinter Razvan zu verschwinden und so zu tun, als wäre er nicht da.
Luzifer stand auf und sie fielen daraufhin alle synchron auf die Knie. »Steht auf«, sagte ihr Meister direkt, als wäre ihm dieses Ritual längst zuwider geworden. »Ich habe einen Auftrag für euch alle.«
Es war zwar schon vorher still im Raum gewesen, doch jetzt wurde das Schweigen hörbar und ihre kollektive Anspannung lud die Atmosphäre zusätzlich auf. Normalerweise wurden sie höchstens zu zweit auf die Erde geschickt.
»Ihr werdet in der Hölle und auf der Erde nach einem Gefallenen namens Chris suchen.«
Dorian wurde kalt und es fiel ihm schwer, Haltung zu bewahren. Da war es wieder, das Bild in seiner Erinnerung. Schwarze Federn. Engelsaugen.
›Mensch‹, dachte Dorian beharrlich. Seine innere Stimme spuckte das Wort aus, doch selbst das verlieh der Verachtung nicht genügend Ausdruck.
»Er hat bei seiner wichtigsten Aufgabe versagt, mir seinen Gehorsam verweigert und mich hintergangen. Wenn ihr ihn findet, wird er euch Lügen erzählen. Hört ihm nicht zu und glaubt ihm kein Wort, sondern bringt ihn mir. Bringt mir seine Überreste, wenn er sich wehrt.«
Kollektives Nicken. Dorian zwang sich, es auch zu tun, auch wenn ihn seine außer Kontrolle geratenen Gedanken zusehends erstarren ließen. ›Ich habe ihn in die Hölle gebracht. Er ist das Problem und ich habe es ausgelöst. Das ist alles meine Schuld.‹
»Verliert keine Zeit. Ich will diese Situation so schnell wie möglich gelöst haben.«
Wieder Nicken, aber keiner rührte sich, bevor es ihm befohlen wurde – vor Luzifer verloren sie ihren freien Willen. Das war es, was sie ihm schuldeten.
»Macht euch auf den Weg.« Er runzelte kurz die Stirn. »Lucian, du bleibst hier.«
Der Angesprochene ging arrogant grinsend an ihnen vorbei, im Wissen, dass sich in Luzifers Anwesenheit niemand trauen würde, seinem Neid Ausdruck zu verleihen. Dorian schaute auf den Teppich, weil er den Anblick nicht ertrug. ›Dachtest du wirklich, Luzifer würde dich gerade wollen?‹
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