Ein weiteres Phänomen ist die Projektion. Ohne jede Form der Ablenkung neigt ein ungeschulter Geist dazu, die schillerndsten Fantasien auf andere Personen zu projizieren. So kann es vorkommen, dass jemand einen vollkommen fremden Menschen aus der Gruppe zur Liebe seines Lebens stilisiert, ohne je ein Wort mit ihm oder ihr gewechselt zu haben. Projektionen funktionieren im gleichen Maße mit den Gefühlen der Zu- wie der Abneigung. War es eben noch die überbordende Liebe, die uns durchströmte, ist es am nächsten Tag vielleicht das traurige Gefühl, ein Außenseiter zu sein und die ganze Gruppe gegen sich zu haben.
Neben Frustration und Projektion stellt auch unser eigenes Bewertungssystem ein großes Hindernis dar. Unser Geist bewertet ununterbrochen jede, jeden und ganz besonders sich selbst. Leider liegt es in seiner Natur, dass die meisten dieser Bewertungen negativ ausfallen und dass wir dabei vor allem mit uns selbst sehr hart ins Gericht gehen.
Über die Yogaübungen bewußt mit diesen Geisteszuständen in Kontakt zu kommen, soll ihnen die Schärfe nehmen und helfen die Tür des Erkennens zu öffnen. Wir lernen, dass wir keinen Einfluß darauf haben, welche Gedanken in unserem Geist erscheinen, wohl aber, welche Qualitäten wir ihnen zuweisen. Es liegt ganz in unserer Hand, ob wir einer Geistesbewegung eine neutrale, positive oder negative Färbung geben. Und auch, ob wir einen Gedanken einladen zu bleiben oder ob wir ihn durchwinken. Der Zen-Meister Suzuki Roshi drückt es so aus: Lass Deine Vorder- und Hintertür offen. Lass die Gedanken kommen und gehen. Aber serviere ihnen keinen Tee. Und wenn wir mal nicht aufgepasst haben und wir erwischen einen Gedanken dabei, wie er sich selbst Tee eingeschenkt, gilt es, sich nicht mit ihm zu identifizieren. Eckhart Tolle, ein von mir sehr geschätzter spiritueller Lehrer, drückt es so aus: Glaube deinen Gedanken nicht. Sie sind real, aber nicht wahr. Zumindest nicht immer. Wenn wir das akzeptieren, haben wir in jedem Moment die Möglichkeit, unsere Realität aktiv mitzugestalten. Denn jeder Gedanke hat das Potenzial, sich in eine Tat zu wandeln und sich damit zu manifestieren.
Diese erfahrungsreichen 90 Minuten Yoga am frühen Morgen münden direkt in die erste Meditation des Tages, in der wir die Möglichkeit haben, das eben Erfahrene zu integrieren. Um 7.00 Uhr steht mit dem Frühstück die erste von zwei täglichen Mahlzeiten auf dem Plan. Gleich neben der Buddhahalle liegt der offene Essensraum zu ebener Erde. Aus einer Küche, die ich noch nie von innen gesehen habe, kommen jede Menge Köstlichkeiten. Ein in die Jahre gekommener Ladyboy bekocht hier schon seit über 10 Jahren die Farrangs. Meist gibt es drei vegetarische Gerichte mit Reis und zum Nachtisch Obst. Kleine Bananen, Drachenfrüchte, Rambutan, Mangostane.
Schweigend sitzen wir teilweise zu sechst an runden Tischen und versuchen, wegzuschauen. Zufälliger Blickkontakt ist unangenehm, denn selbst ein Lächeln wäre ja eine Form der Kommunikation. Nicht zu lächeln ist aber auch komisch und fühlt sich unfreundlich an. Aus dem Augenwinkel beobachte ich meine Tochter. In mir steigen Zweifel auf, ob das Ganze nicht zu viel für eine meditationsunerfahrene, junge Frau ist und eine Geschichte kommt mir in den Sinn, die ich vor ein paar Monaten hörte. Eine Teilnehmerin aus der Yogalehrer Ausbildung in Hamburg, die ein ähnliches Schweigeretreat in Deutschland besuchte, rutschte nach ein paar Tagen in eine Psychose und landete für drei Wochen in der geschlossenen Psychiatrie. Obwohl ich mir sicher bin, dass Greta weiß, dass sie jederzeit die Notbremse ziehen kann und ich mich auch darauf verlassen kann, dass sie das tut, will mich dieser Gedanke nicht loslassen. In einem wachen Moment entlarve ich ihn als Produkt meines schon jetzt gelangweilten Gehirns und ein Zitat von Hermann Hesse fällt mir ein: Nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt! Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf boykottiere ich den Fluchtversuch meines Geistes vor der Konfrontation mit sich selbst und fokussiere mich auf meine eigene Übung.
Unsere Buddha Natur aktivieren
Nach dem Frühstück steht uns ein wenig Zeit zur freien Verfügung, bevor es um 9.00 Uhr weitergeht. Die Pausen zwischen den Programmpunkten sind nicht wirklich als solche zu verstehen. Ziel ist es, vierundzwanzig Stunden in Achtsamkeit zu verbringen. Selbst wenn ich mich nach dem Frühstück noch einmal hinlege, liege ich achtsam. Beobachte den Atem, den Körper, die Gedanken, die Gefühle. Wenn ich in der Pause fege oder putze, tue ich es achtsam. Wenn ich einfach nur rumsitze, spazieren gehe, ich bin immer in Achtsamkeit. Achtsam sein heißt, ohne Bewertung immer hier in diesem Moment zu verweilen, bei dem, was gerade ist.
In den darauffolgenden zwei Stunden werden wir in die erste von sieben Stufen der Gehmeditation eingewiesen. Wir lernen, unsere Konzentration zu halten und gehen immer denselben kurzen Weg hin und her. Drehen uns achtsam, benennen dabei den der Bewegung vorausgehenden Impuls sowie die Bewegung selbst. Jeder Schritt folgt einem gedachten „links geht vor“, „rechts geht vor“. Dies machen wir im Wechsel mit der Sitz- und Stehmeditation bis um 11h die erlösende Glocke klingt. Dann steht das letzte Essen des Tages auf dem Buffet. Bis um 13.00 ruhen wir, meditieren bis 16.00 Uhr, ruhen bis 18.00 Uhr.
Ajahn Somchai nimmt jeden Abend in der großen Buddhahalle Platz, um zu uns zu sprechen. Nicht nur zu uns als Gruppe, auch zu der Sangah. Er hält jeden Tag einen Dhamma oder Dharma Talk. In der Mitte der alten Buddhahalle steht ein großer Altar mit goldenen Buddhastatuen und Kerzen. Davor ein Podest mit rotem Teppich bespannt, auf dem die Mönche ihrem Status entsprechend sitzen. Ganz vorn natürlich Somchei. Die Novizen sitzen nicht auf sondern vor dem Podest und wir Laien sitzen in mehreren Reihen hinter ihnen ebenfalls am Boden. Das Podest ist das Zentrum der Halle und wird umrundet von einer Art Parcours für die Gehmeditation. Mit Somcheis Eintreffen beginnt das Abendprogramm. Eine Stunde lang chanten wir von Buddhas Leben und Lehren auf Pali. Es wird vermutet, dass die Texte erstmals im ersten Jahrhundert vor Christus aufgezeichnet und bis dahin immer mündlich in Form von Gesängen weitergegeben wurden. Jeder von uns bekommt ein Chanting Book, in dem der Pali Kanon mit seiner englischen Übersetzung steht. Pali ist wie das im Yoga häufiger verwendete Sanskrit eine mittelindische Sakralsprache, in der die heiligen Texte Asiens verfasst wurden und die heutzutage nur noch die Gelehrten verstehen. Das Chanten soll die Weisheit unserer Buddhanatur aktivieren und wenn ich den Einstieg in in die heilenden Klänge finde, kann ich erahnen, dass so etwas in mir steckt. Doch an manchen Tagen verbringe ich mehr Zeit mit dem Suchen der Textstelle, als mit Singen.
Nachdem der letzte Ton in den Tiefen der Hallen verebbt ist, beginnt Somchei seinen Talk. Wenn er das auf Thai tut, ist Wachbleiben eine Herausforderung besonderer Art. Wechselt er wieder ins Englische, verstehe ich manchmal genauso wenig wie vorher. Ajahn Somchei hat die englische Sprache in Indien gelernt und es ist schwierig für mich, ihm zu folgen. Glücklicherweise verpackt er seine Lehren in Geschichten, die er mehrmals wiederholt und so hat zumindest die Essenz der Weisheit eine gute Chance durchzudringen.
Was damit gemeint ist, unsere Buddhanatur zu entdecken, macht er an einer wahren Geschichte deutlich, die sich vor mehr als vierhundert Jahren zutrug. Thailands damaliger König ließ aus dem ganzen Land mehr als 1.200 Buddhastatuen in die damals neue Hauptstadt Bangkok bringen. Darunter auch eine drei Meter hohe Tonstatue. Schon allein aufgrund ihres Alters wurde sie verehrt. Als Renovierungsarbeiten in den 1950er Jahren den Tonmantel beschädigten, kam ein Buddha aus reinem Gold zum Vorschein. Über 5,5 Tonnen schwer. Der Ton sollte den Gold-Buddha vor Raub und Plünderung schützen und die Menschheit vergaß im Laufe des auf 700 Jahre geschätzten Alters der Statue ihren wahren Kern. So wie wir die in uns verborgene Buddhanatur vergessen haben, die unberührt von den Prägungen des Lebens in uns ruht. Zahlreiche Glaubenssätze und Überzeugungen, dass Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen, verschleiern unseren wahren Kern und es gilt, den Tonmantel Stück für Stück abzutragen, um das höchste in uns ruhende Potenzial wieder freizulegen. Im Tibetischen Totenbuch steht: O nobly born, o you of glorious origins, remember your radiant true nature, the essence of mind. Trust it. Return to it. It is home. O, Edelgeborener. O, du ruhmreicher Herkunft. Erinnere dich an deine strahlende, wahre Natur, die Essenz des Geistes. Vertraue ihr. Kehre dorthin zurück. Es ist zu Hause.
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