Wie geht das überhaupt, für Monate aus dem angestammten Umfeld zu verschwinden?
Als ich nach der Reise mit meinem Sohn auf dem kalten Hamburger Flughafen lande, liegt ein Jahr des Wandels vor mir. Im Sommer wird meine letzte Tochter die Schule verlassen und hinaus in die Welt gehen. Ich finde es befriedigend und bedrückend zugleich, meinen Kindern beim Start in ein eigenständiges Leben zuzuschauen. Befriedigend, weil meinem Erziehungsauftrag offensichtlich ein selbstständiger Mensch entwachsen ist. Bedrückend, weil ich seit Jahrzehnten mein Leben ganz auf die Pflege von Kindern, Haus, Garten und den dort lebenden Tieren ausgerichtet habe und noch keinen blassen Schimmer habe, wie es danach für mich weitergehen wird. Um jederzeit ansprechbar zu sein, habe ich meine Arbeit ins Homeoffice verlegt und unterrichte fußläufig ein paar Yogakurse. Jetzt fühle ich mich wie die Leiterin einer Abteilung, die sich in Auflösung befindet und deren betriebsbedingte Kündigung in Arbeit ist. Mit Greta verlässt auch meine „Daseinsberechtigung“ das Haus. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich winkend an der Haustür stehen, das Haar weiß, die Haut knittrig, aus dem Inneren des Hauses dröhnt das einsame TickTack einer Standuhr. So will ich auf keinen Fall in diesem verwaisten Traum von Familienglück zurückbleiben. Ich muss mich neu erfinden! Ich spüre den drängenden Wunsch, das Ruder in die Hand zu nehmen und mein Lebensschiff in paradiesische Gewässer zu schippern.
Doch vorher soll auch Greta einen würdigen Abschied von ihrer Kindheit auf einer gemeinsamen Reise bekommen. Wie schon ihren Geschwistern zuvor, schenke ich ihr vier Wochen Thailand. Los geht unser Trip mit einem zehntägigen Schweigeretreat im Tempel von Ajahn Somchei und zum Ende unserer gemeinsamen Zeit wollen wir für ein paar Tage auf eine Insel. Was wir dazwischen machen, steht noch nicht fest.
Meine Freunde Anja und Christian vom Mindfulness Project, die das Schweigeretreat organisieren, haben die Tage wie im letzten Jahr um den 31. Dezember gelegt. Ich kann mein Glück kaum fassen, das spektakuläre Silvester Fest im Meditationszentrum von Ajahn Dong jetzt auch noch einmal mit Greta zu erleben.
Ein Rückblick: Es war der letzte Abend des Jahres 2018 und Halbzeit unseres 10-tägigen-Schweigeretreats im Kloster Ban Nontan, als mein Sohn und ich mit unserer Meditationsgruppe zur Jahresendzeremonie vom Kloster in das Meditationszentrum von Ajahn Dong pilgerten. Wir trugen alle das gleiche helle Ensemble aus einer dünnen Baumwollhose und einem kragenlosen Hemd, das uns für die Menschen der Straße sofort als Schüler des Klosters auswies. In dieser an Pyjamas erinnernden Kleidung wanderten wir in Zweier-Pärchen hintereinander aufgereiht durch die geschäftige Stadt Khon Kaen. Wir waren mehr als vierzig Teilnehmer. Viele Geschäftsleute kamen aus ihren Läden, um uns zu begrüßen und manch einer weinte vor Freude darüber, uns Farrangs, so nennen die Thais alle Fremden, so zu sehen. Wenn du dich einem Vipassana Retreat unterziehst, meditierst du in der Vorstellung praktizierender Buddhisten nicht nur für deinen eigenen, sondern auch für den Weltfrieden und dieses Bemühen schließt jeden einzelnen von ihnen mit ein. Mehr Anerkennung kann man als Ausländer der thailändischen Kultur nicht entgegenbringen und dem entsprechend groß war das Wohlwollen, das uns auf der Straße entgegenströmte. Man bedankte sich überschwänglich bei uns, dass wir diese Arbeit an uns selbst zum Wohle aller Lebewesen auf uns nahmen. Vor Rührung liefen auch mir Tränen die Wangen hinunter und da ich keine Vorstellung hatte, was uns bei Dong erwartete, trat ich mit dem festen Vorsatz an, die Silvesternacht durchzumeditieren. Ich wollte auf Schlaf verzichten und so der uns allen entgegengebrachten Zuneigung gerecht werden.
Schon aus der Ferne konnte ich hunderte, wenn nicht sogar tausende von Menschen auf dem von gleißendem Licht gefluteten Gelände des Meditationszentrums erkennen. Mit jedem Schritt, den wir näher kamen, manifestierte sich die Geräuschkulisse, bis sie zum Greifen nah schien. Das Meditationszentrum war zu einem Volksfestplatz mutiert. Gassen voll mit Ständen boten Leckereien und Getränke an. Und alles war kostenlos. Der weiße Marmor der meterhohen Buddhastatue in der Mitte des Zentrums reflektierte das Licht über ein Lager aus Zelten und Schlafsäcken, das sich in mehreren Reihen rund um sie herum aufgebaut hatte. Auf dem Sockel, der die Statue trug, saß Ajahn Dong mit seinen Mönchen und chantete non-stop buddhistische Mantren, die sich via Lautsprecher über die Menge ergossen und sie wie in eine warme Decke hüllten. Von einer Hand des Buddhas spannten sich einem gigantischen Spinnennetz gleich Baumwollfäden über das gesamte Gelände. Egal, wo ich mich befand, immer baumelte so ein Faden über meinem Kopf und bot sich an, mich um Kopf oder Arm geschlungen mit Buddha, den Mönchen und allen anderen Besuchern zu verbinden. Nach den Tagen der Abgeschiedenheit und Stille im Kloster fand ich mich damals von jetzt auf gleich mitten in diesem Treiben. Ich war so überwältigt, ja überfordert von den sensuellen Eindrücken, die da auf mich einprasselten, dass ich unfähig war, meinen Mund zu schließen. Zu unserer aller Erleichterung wurden wir für diese eine Nacht von unserem Schweigegelübde entbunden. Der Geist hatte ohnehin keine Chance ruhig zu bleiben. Und so chantete ich gemeinsam mit dieser riesigen Menschenmenge bis in den frühen Morgen, umrundete in Gruppen zu Hunderten die Buddha Statue, meditierte, redete, lachte und aß viel zu viel von dem leckeren in Bananenblättern gegarten Klebereis Khan Thom Mad. Zwischendurch fiel ich, wo immer ich gerade war, in einen leichten, nur wenige Minuten dauernden Schlaf. Ich wollte nichts von alldem verpassen. Als am frühen Morgen die Nacht der aufgehenden Sonne wich, versammelte sich die übrig gebliebene Menschenmenge ein letztes Mal am Rundweg um den Buddha und füllte die Bettelschalen der vorbeiziehenden Mönche. Mit dieser Praxis, die zu einer der zentralsten im Theravada Buddhismus gehört, sammelt man positive Karmapunkte. Der Gedanke dahinter ist einfach: wer gibt, bekommt. Den krönenden Abschluss fand die Zeremonie mit reichlich buddhistischem Weihwasser in einer Segnung von Ajahn Somchei. Damit wurde die kichernde und johlende Menge ins Jahr 2019 entlassen. Unsere Gruppe ging zurück ins Kloster und damit ins Schweigen. Ich glaube, ich habe nie ein schöneres Silvesterfest gefeiert. Es war das Highlight der Reise mit meinem Sohn. Ajahn Dong ist mein ganz persönlicher Lieblingsmönch. In einem Leben vor seiner Ordination war er Thai Boxer und praktizierte die traditionelle Kampfkunst als Schuldeneintreiber für die thailändische Mafia. Aus dieser Zeit stammen die für Muay Thai Kämpfer typischen Sak Yant Tattoos, die seinen drahtigen Körper schmücken. Unter Berücksichtigung einiger mystischer Regeln sollen sie ihren Träger schützen und ihn stark machen. Dazu wird das Tattoo von einem Mönch mit einem Bambusrohr gestochen und der Tinte wird mindestens eine magische Substanz beigemischt. Oft ist es die Asche eines toten Mönchs. Vielleicht hat so eine Tätowierungssitzung Dongs Transformationsprozess vom Bad Boy zu dem, was er heute ist, eingeläutet. Wie dem auch sei, er ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was jahrzehntelange buddhistische Praxis vermag. Obwohl er weder Englisch spricht noch versteht, hatte ich nie das Gefühl, mit ihm nicht kommunizieren zu können. Das Verstehen läuft mit ihm auf einer nonverbalen Ebene und immer wenn er in seinem orangefarbenen Ordensgewand und seinen antiken, ledernden Kampfhandschuhen vor mir steht, scheint es als schaue er mit seinem unfassbar schönen und offenen Lächeln direkt in meine Seele. In diesen Momenten steht die Welt still und Sorgen existieren nicht.
Nachdem er viele Jahre als Mönch im Tempel seines Lehrers Ajahn Somchei lernte, wurde er mit der Leitung dieses Meditationszentrums betraut. Erstmals habe ich das damals verwaist anmutende Gelände 2011 besucht. Der Unterschied zu dem magischen Ort, der bis heute dort gewachsen ist, könnte größer nicht sein. Interessanterweise scheint Dongs Aura abzufärben. Die ordinierten Männer, die er um sich schart, sind wie er von einer ganz besonderen Art und strahlen eine für Mönche untypische männliche Energie aus. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie eine ähnliche Vita haben wie er.
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