Wie erwartet ist sie wenig begeistert von der Idee, ihre wertvolle Reisezeit mit dem Studium altindischer Energiekonzepte zu verschwenden. Und ich kann ihr nur Recht geben. Ich habe ohne wirklich darüber nachzudenken, einfach schon mal drei Wochen ihrer vierwöchigen Reise voll verplant. Aber da Greta noch keine Idee hat, wie ihr Leben danach weitergehen wird, verlängere ich unsere gemeinsame Zeit kurzerhand um weitere zwei Wochen auf insgesamt sechs. Was für eine Freiheit!
Während dieser Planungszeit steckt Greta eines Tages ihren Kopf durch meine Bürotür und will wissen, ob ich denn auch für sie eine Reisekrankenversicherung abgeschlossen hätte. Eigentlich wollte ich das gar nicht und nur, weil ich mich in meiner Nachlässigkeit ertappt fühle, buche ich für sie schnell noch eine Basisversicherung für ein paar Euro. Später soll ich darüber noch sehr dankbar sein.
Drei Wochen vor unserem Abreisetermin klingelt mein Telefon. Es ist Gretas Freund. Mir ist sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Er ruft aus dem Krankenhaus an. Die beiden waren auf der Elbe wakesurfen. Gleich bei Gretas erstem Versuch, auf der Heckwelle des Bootes zu reiten, hat sich das Seil um ihren linken Arm geschlungen und mit einem Ruck Elle und Speiche gebrochen. Die Fotos, die er mir schickt, sehen aus, als hätte sie am Unterarm ein zweites Handgelenk. Oh, mein Gott! In Blitzgeschwindigkeit durchspielt mein Hirn die vergangenen und zukünftigen Wochen und stellt alles in Frage.
Sie hat die Wahl, sechs Wochen Gips zu tragen und sich zu schonen, bis die Knochen wieder stabil zusammengewachsen sind oder sich operieren zu lassen, was den Heilungsprozess beschleunigen würde. Auf Reisen mit schwerem Rucksack sind die Voraussetzungen für das erste Verfahren nicht optimal und schon zwei Tage später liegt Greta auf dem OP-Tisch. Schweren Herzens muss sie von ihrem mittlerweile gefassten Traum, im Anschluß weiter nach Bali zum Surfen zu fahren, Abschied nehmen. Der Arzt rät ihr von so einer Belastung ab. So ärgerlich die Situation auch ist, sie markiert wenigstens ein klares Ende unserer gemeinsamen Zeit und ermöglicht es mir, ihren Rückflug von Bangkok nach Hamburg zu buchen. Es wird der 1. November 2019 sein, vier Tage vor ihrem zwanzigsten Geburtstag.
Die letzten Wochen vor unserer Abreise fließen wie feiner Sand im Stundenglas langsam aber unaufhörlich dahin. Schon bin ich aus meinem Job raus und mitten in der Planung eines Farewell Festes. Ich verabschiede mich von meinen Freunden, Yogis und Yoginis, werde beschenkt mit einer tollen Party, einem Flashmob und einem Ring. Es ist ein Ehering mit einer Gravur. Er soll uns über die Entfernung verbinden, soll mir finanziell die Rückkehr ermöglichen und mich als augenscheinlich verheiratete Frau vor übergriffigen Männern retten. Was für ein tolles Geschenk. Gretas Genesung schreitet voran und dann endlich fliegen wir über Helsinki nach Bangkok und von dort weiter in den Norden Thailands. Nach 20 Stunden Reisezeit landen wir in Khon Kaen. Morgen werden wir ins Kloster einziehen.
Monate im Voraus habe ich uns mit einem befreundeten Pärchen aus Hamburg für den heutigen Abend zum Essen verabredet. Im ersten Moment fühlt es sich surreal an, Menschen in einer komplett anderen Umgebung zu treffen, als man sie normalerweise verortet. Vor allem, wenn diese vorher schon einige Zeit unterwegs waren. Denn Reisen hinterläßt Spuren. Es verändert. Diese beiden hier sind dünn geworden, haben die typischen drei, vier Wohlstandskilo verloren und tragen für Europäer ungewöhnliche Kleidung. Sie sehen glücklich aus, tiefenentspannt und ein bisschen wild. Vor drei Monaten waren sie in ihr Sabbatical nach Asien gestartet und werden mit dem Einzug ins Kloster das Ende ihrer Reise einläuten. Gemeinsam mit Anja und Christian feiern wir unser Wiedersehen und genießen noch einmal den Luxus zu essen, worauf wir Lust haben, zu reden, wann wir wollen und in einem weichen Bett zu schlafen. Das Thema des Abends ist Auroville. Was ich darüber höre, gefällt mir gar nicht. Christian hat dort drei Wochen an einem Permaculture Workshop teilgenommen, die anderen beiden haben Auroville nur für einen Tag besucht. In einem sind sich aber alle drei einig: wenn Auroville überhaupt etwas ist, dann eine gescheiterte Utopie. Diese Nachricht resoniert nicht gut in mir und mehr aus der Not, bitte ich darum, das Thema zu wechseln oder sich darüber zu unterhalten, wenn ich nicht dabei bin. Auch wenn alle meiner Bitte nachkommen, hat sich in mir schon das Gefühl festgesetzt, dass es ein Fehler war, mich für zwei Monate in Auroville einzubuchen. Mit dem schweren Gefühl, dass meine Reise kein gutes Ende nehmen wird, einfach weil ich eine schlechte Planerin bin, gehe ich frühzeitig schlafen.
Unser Einzug in den Tempel ist erst für den Nachmittag geplant, doch Greta und ich machen uns gleich nach dem Frühstück auf den Weg. Wir wollen helfen, die Räume vorzubereiten und uns so ganz nebenbei erste Karmapunkte verdienen.
Grundlegend in der buddhistischen Philosophie ist die Überzeugung, dass jeder unweigerlich die Konsequenzen seines Handelns tragen wird. Dass wir ernten, was wir säen. Eine gute, wie eine schlechte Tat zieht unweigerlich in diesem oder in einem anderen Leben eine Reaktion nach sich. Dieses Ursache-Wirkungs-Prinzip ist ja auch uns Europäern nicht fremd. Das mittelalterliche Sprichwort: “Wie du in den Wald rufst, so schallt es heraus.” sagt nichts anderes. Auch wenn es nicht so genannt wird, geht es dabei um das Gesetz des Karmas.
Selbstloses Dienen eignet sich hervorragend dazu, negatives Karma abzubauen und gleichzeitig positives neues anzuhäufen. Vorausgesetzt ich diene dem Wohle aller Lebewesen und nicht nur mir selbst. Auch Putzen gehört dazu und zwar ohne dabei auf mögliche abfallende Früchte zu schielen. Putzen mit so viel Enthusiasmus, wie der Dalai Lama sagt, “als hinge das gesamte Gleichgewicht des Universums davon ab.”
Voller Tatendrang gehe ich mit Greta durch die mir sehr vertrauten engen Straßen des alten Khon Kaens und schon nach einer Viertelstunde stehen wir vor den Klostermauern, die den Lärm der Stadt davon abhalten, in die Stille der grünen Oase vorzudringen.
Vor vielen Jahren auf meinem ersten Retreat nahm Ajahn Somchei die Teilnehmer unsere Gruppe mit den Worten in die Gemeinde auf: „Ihr seid nun Teil unserer Familie und dieser Tempel ist euer zu Hause.“ Und irgendwie fühlt es sich genauso an. Als ich das Gelände mit seinen großen Bäumen und den dicht an dicht stehenden Häuschen betrete, habe ich das Gefühl, angekommen zu sein.
Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Grundstein zum Wat Pho Ban Nontan gelegt. Seitdem ist es zu einer Siedlung mit unzähligen kleinen und großen Gebäuden herangewachsen, in denen die Mönche wohnen und meditieren. Zwei Stockwerke über einer der großen Buddha Hallen sind für unser Retreat reserviert. Der knapp fünfzig Jahre alte Bau sieht von außen aus, wie eine im Wald versteckte Höhle. Baumskulpturen, Bilder und Reliefs zieren seine Außenwände. Sie erzählen vom Alltag der einfachen thailändischen Menschen und verknüpfen ihn mit der buddhistischen Philosophie. Manch eine Darstellung ist humorvoll, eine andere gnadenlos deutlich. Da ist zum Beispiel eine Bildreihe, die einen Mann in drei alltäglichen Situationen zeigt. Im ersten Bild isst er mit beiden Händen aus vielen Töpfen, im zweiten hält er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch, im dritten läuft er geschwind aus dem Bild, beide Hände zum Po gestreckt, aus dem in kleinen Wölkchen offensichtlich übelriechende Gase entweichen. In seiner Einfachheit verdeutlicht es die Folgen, mit der jeder rechnen muss, der seinem über die Sinne stimulierten Verlangen zügellos nachgibt. Ich denke, wir kennen das alle, oder? Die im Buddhismus gelehrte Achtsamkeit soll dabei helfen, wacher für die Folgen unseres Handelns zu werden und dadurch zukünftiges Leid zu verringern, vielleicht sogar zu verhindern.
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