»Ist es denn wirklich todt?« fragte die Bäuerin, deren Lebensgeister durch das tiefste Mitgefühl plötzlich wieder zur hellen Flamme angefacht worden waren.
»Kalt und schlaff,« entgegnete der Mann, indem er versuchte, den kleinen, schmächtigen Körper in eine sitzende Stellung zu bringen.
»Vater, es ist dennoch vielleicht Leben in ihm!« rief die Frau lebhaft, die sie verhüllende Decke zurückwerfend und sich erhebend. »Du weißt, unser Lieschen, als es gestorben war, wurde starr und steif, die kleinen Arme bogen sich nicht mehr, und nur mit Mühe gelang es mir, die Fingerchen zu falten! Schnell, Vater, schnell hebe es auf den Wagen! So lange die Glieder schlaff und beweglich sind, ist die letzte Hoffnung nicht verloren!«
»Armer Wurm, so im Schnee und Eise verkommen zu müssen!« sprach der Bauer vor sich hin. »Und die Eltern, die Eltern, wo mögen sie sein, in welcher Lage mögen sie sich befinden, daß ihr Kind überhaupt verloren gehen konnte?« Dann aber hob er den anscheinend leblosen Körper empor, und an die Seite des Wagens hintretend, reichte er ihn seiner Gattin dar.
Im nächsten Augenblicke befand er sich ebenfalls auf dem Wagen, die Handschuhe warf er zur Seite, die Zügel schnürte er an den Leiterbalken fest, und ohne Säumen traf er Anstalt, seine Gattin in den Wiederbelebungsversuchen zu unterstützen.
Was kümmerten die guten Leute nun noch der fallende Schnee und die zunehmende Dunkelheit, was fragten sie danach, daß sie außerhalb der Straße auf unwegsamem Boden hielten und die Pferde, die ihnen einen großen Theil ihres täglichen Brodes verdienen halfen, um so länger dem bösen Wetter ausgesetzt blieben? Es galt, ein Menschenleben zu retten, das Leben eines Kindes, und zu genau wußten sie, was es heißt, den Liebling des Herzens dem Grabe überantworten zu müssen.
Darum beeilten sie sich auch so sehr, das Halstuch und das leichte Kleidchen von der Brust des auf dem Sitzsacke liegenden kleinen Mädchens zu entfernen, und darum empfanden sie auch ein so inniges Entzücken, als sie entdeckten, daß das Herz noch nicht aufgehört hatte zu schlagen. Freilich wiederholten sich die kaum fühlbaren Schläge in langen, unregelmäßigen Pausen, allein sie bewiesen doch, daß wenigstens noch ein Funke von Leben vorhanden sei und ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt werden dürften.
Mit weiteren Prüfungen hielten sie sich daher nicht auf, denn jeder Pulsschlag in dem zarten Körper konnte ja der letzte sein, jeder Augenblick über Leben und Tod entscheiden. Zwar hatten die guten Leute in der Schule keine große Gelehrsamkeit gesammelt, aber lesen hatten sie gelernt, und rechtzeitig erinnerte sich die Frau, in einem Bilderbuche von der Wiedererweckung im Schnee Erstarrter gelesen zu haben, und von den Mitteln, deren man sich dabei bediente. Die Mittel erschienen ihr damals wunderbar und märchenhaft, allein heute verstand sie den ganzen Werth derselben, und leicht gelang es ihr, auch den Gatten damit vertraut zu machen. Schnee war ja in ihrer nächsten Nähe in Fülle vorhanden, sie hatten es daher so bequem, wie sie nur wünschen konnten, und für Leute ihres Schlages, die seit ihrer frühesten Jugend mit schwerer Arbeit vertraut gewesen, war es kaum eine Mühe, mit lockerem Schnee die erstarrten Glieder zu bedecken und zu reiben.
Und sie rieben lange und eifrig; nur gelegentlich ließen sie ein bedauerndes Wort fallen über die hageren Aermchen, die unter ihren Händen und der rauhen Behandlung zu zerbrechen drohten, und über das dünne Kleid, welches selbst der kräftigsten und abgehärtetsten Natur keinen hinreichenden Schutz gegen die winterliche Kälte geboten hätte. In dem Maße aber die schlaffen Glieder sich zu erwärmen begannen, verdoppelten sie auch ihre Anstrengungen, und als sie dann endlich das Klopfen des Herzens deutlicher spürten, ein leiser, warmer Athemzug die Schläfe der dicht vor den kalten Lippen ängstlich horchenden Bäuerin streifte, da dankten sie laut dem lieben Gott, daß er den Weg hatte verschneien und die Pferde von demselben abirren lassen. Wie ein freundlicher Trost zog es in ihre bekümmerten Herzen ein, und die auf ihren erhitzten und vom Wetter gebräunten Wangen schmelzenden Flocken vermischten sich mit einzelnen warmen Tropfen, die ein unerklärliches Gefühl den biederen Leuten, ohne daß sie es merkten, in die Augen getrieben hatte. Indem aber das auf der Gränze des Todes stehende Leben unter ihren Händen zurückkehrte, verschärfte sich auch ihre Erfindungsgabe.
Die Frau holte nämlich aus ihrem Kober einen Krug Essig hervor. Behutsam wusch sie Schläfen und Gesicht des Kindes, und ein paar Tröpfchen ließ sie zwischen die noch immer kalten Lippen laufen. Der Mann dagegen hatte unterdessen den Deckel von dem kleinen Sarge geschraubt, und zwar mit fester Hand und ohne jenen herben Schmerz zu empfinden, der ihn, als er in der Stadt die letzte Wohnung seines einzigen Kindes auf den Wagen lud, erschütterte; in den Sarg auf die Hobelspäne legte er seinen dicken Mantel, sorgfältig darauf achtend, daß die feuchten Stellen nach unten kamen und kein Schnee mehr hineinfiel. Und als er damit zu Stande gekommen war, hob er, mit Hülfe seiner Gattin, den bewußtlosen Körper auf das seltsame Lager, den Kopf etwas erhöht, wie man wohl bei Gestorbenen thut, worauf die Bäuerin mit mütterlicher Sorgfalt ihre Decke über den kleinen Gast breitete, so daß ihm nur eine schmale Falte zum Athmen blieb. Der Mann aber befestigte den oberen Theil des Sarges ganz lose auf den unteren, um die Kälte nicht zu dem Kinde hineindringen zu lassen, damit es erhalten bleibe und wieder zu seinen besorgten Eltern zurückgebracht werden könne.
Den Mangel des Mantels fühlte er eben so wenig, wie seine Gattin den Mangel der Decke; sie waren abgehärtet und außerdem hatten sie sich warm gearbeitet. Ihre Arbeit war indessen noch lange nicht beendigt, denn die Dunkelheit hatte sich fast zur schwarzen Finsterniß verdichtet, so daß die Frau die Zügel vom Wagen aus halten mußte, während der Mann sich nach vorn zu den Pferden begab und, dieselben führend, seinen Weg mühsam zwischen den Baumstämmen hindurch tastete, die seinen Wagen und namentlich dessen Räder bei jedem neuen Schritte mit Verderben bedrohten.
Sobald sie aber die Straße erreicht hatten, stieg er wieder auf, denn nunmehr befand er sich auf bekanntem Boden, und die Zügel nahm er so straff, wie seit langer Zeit nicht; sogar die Peitsche gebrauchte er mehr, als es vielleicht nöthig gewesen wäre, und dahin ging es in scharfem Trabe durch den dunklen Forst, daß der Schnee zu beiden Seiten davonstäubte und die Räder kaum Zeit behielten, bis auf den Grund der Geleise durchzudringen.
Wie klapperte der Wagen plötzlich so lustig und wie klingelten die Deichselketten so hell! Wie sauste der Schnee in dichten Massen von den Zweigen, wenn diese im Vorüberfahren gestreift wurden, und wie war es sonst in dem Walde so feierlich still!
Vom schwarzen Himmel aber sanken die Flocken unablässig in alter Weise nieder, leise und ungesehen. Auch auf den Sarg fielen sie reichlich, aber der Sarg tanzte und wackelte nicht mehr so unbeholfen wie vorher. Er war jetzt schwer und ruhte daher fester auf seinem Strohlager, und statt der erwarteten kleinen Leiche schlummerte in ihm ein junges, erwachendes Leben.
Vorwärts, vorwärts durch Nacht und Schnee! Die Pferde schnaubten, die Peitsche knallte; nicht mehr vor sich nieder starrten die beiden Bauersleute, sondern rückwärts lauschten sie ängstlich. Ihre Herzen waren nicht mehr so schwer bedrückt; der liebe Gott selber hatte sie getröstet, indem er ihnen eine neue Sorge anvertraute.
Im Hause des Büdners oder Halbbauers Reichart herrschte tiefe Stille. Nur das kleine Fenster, welches auf den Garten öffnete, war matt erleuchtet, dem kleinen, etwas abwärts vom Dorfe gelegenen Gehöfte gewissermaßen den äußeren Charakter von Vereinsamung verleihend.
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