So fuhren die beiden Leute ihres Weges. Einer schien die Anwesenheit des Andern vergessen zu haben, und so tief neigten sie die Häupter auf die Brust und so starr blickten sie auf die unter den Hufen der Pferde entstehenden unregelmäßigen Spuren, als ob die Flocken auf ihren Schultern eine Last von vielen, vielen Centnern, die Last einer Welt gewesen wären. Und dennoch lagen die Flocken so leicht und locker, daß es nur eines mäßigen Luftzuges bedurft hatte, um sie von Neuem davonstäuben zu machen.
Was die beiden Gatten so schwer bedrückte, begriff man, sobald man nur einen Blick hinter sie in den Wagen warf, wo auf weichem, federndem Stroh ein kleiner, schwarzer Sarg stand, der für ein etwa zehnjähriges Kind berechnet zu sein schien.
Ja, ein kleiner Sarg, dem das Loos zugefallen war, eine ganze Lebenshoffnung, eine ganze Lebensfreude in sich aufzunehmen, die letzte Wohnung für ein im Tode erkaltetes Kinderherzchen zu werden!
Die schwarz überstrichenen Bretter mit den glänzenden zinnernen Beschlägen nahmen sich duster aus gegen den auf sie niederrieselnden blendend weißen Schnee; dabei aber tanzte das kleine Gebäude lustig auf dem losen Stroh, so oft nur die Wagenräder einen Stein oder sonstige verborgene Unebenheiten im Wege streiften. Der Schnee glitt dann zu beiden Seiten von dem abschüssigen Deckel, als habe der Sarg noch einmal, bevor er auf ewig dem Lichte entrückt wurde, so recht nach Herzenslust um sich schauen, noch einmal die schönen Bäume begrüßen wollen, in deren Gesellschaft vor nicht allzu langer Zeit vielleicht der lebensfrische Stamm grünte, aus dessen Mitte seine Bestandtheile geschnitten wurden. Viele, viele Bretter hatte der Stamm geliefert, gute und schlechte, Alles durcheinander. Manche derselben waren zu Wiegen verarbeitet worden, andere zu Speisetischen, die allein bei festlichen Gelegenheiten auseinander gezogen wurden, oder auch zu Bänken und Fußböden für Tanzsäle, und nur die schadhaften hatte man ausgesucht, um Särge daraus zu zimmern, Särge für arme Leute. Zu Särgen waren die schlechten Bretter gut genug; Kitt und Farbe verdeckten ja die mangelhaften Stellen, und ob festes oder morsches Holz, die Todten schlummern überall gleich ruhig, und gleich schön entfalten sich über ihnen die Blumen der Erinnerung, wenn sie, heißer Liebe entsprießend, mit treuer Sorgfalt gepflegt werden.
Hei, wie der kleine Sarg auf seinem Strohlager wackelte und tanzte, und wie bei einem erneuerten Stoße der lose angeschraubte Deckel so dumpf und hohl erklang! Schien es doch, als hohnlache er darüber, daß auch die nahen Bäume, die jetzt noch stolz und selbstbewußt emporragten, dereinst ihrem Richter nicht entrinnen würden.
Die Bäume dagegen schauten ernst und feierlich auf den kleinen Sarg, und wenn der Wagen zufällig einen winterlich geschmückten Zweig streifte, dann sendeten sie eine reiche Schneespende zu ihm nieder, aber leise, ganz leise, wie aus Ehrfurcht vor den Gestorbenen, leise, wie die Flocken, die sich melancholisch in der stillen Atmosphäre wiegten, leise, wie die Thränen, welche über die gebräunten Wangen des trauernden Elternpaares rannen.
Heftiger schwankte der Wagen, häufiger stolperten die Pferde über gefrorene Maulwurfshügel, hervortretender wurden die Unebenheiten des Bodens, gegen welche die Räder stießen, und lustiger wackelte und tanzte der Sarg in seinem Stroh.
Die beiden Reisenden achteten nicht auf die sich ihnen entgegenstellenden Hindernisse, sie waren zu bekümmert, zu traurig.
Einige Hundert Schritte mochten sie in dieser Weise zurückgelegt haben, da blieben die Pferde plötzlich stehen.
Der Bauersmann sah mechanisch empor, und kaum wußte er, wie ihm geschah, als er, statt der Fortsetzung der Landstraße, eine niedrige Schonung vor sich erblickte.
»Die armen Thiere sind vom Wege abgewichen,« sagte er ruhig, indem er um sich spähte. »Es ist freilich, kein Wunder,« fügte er wie entschuldigend hinzu, »Alles verschneit, und dabei wird es so dunkel, daß ich Mühe haben werde, die Straße wiederzufinden.«
»Laß nur,« entgegnete seine Gattin, ihre Augen kaum erhebend; »am liebsten legte ich mich in den Schnee, um zu sterben und mit unserem Lieschen begraben zu werden.«
»Und ich?« fragte der Mann vorwurfsvoll zurück, während er sich bemühte, seinen Wagen, ohne in die Schonung einzudringen, umzuwenden. »Was sollte ich wohl ganz allein auf der Welt anfangen?«
»Es ist wahr,« versetzte die Frau leise, »ich muß bei Dir bleiben, aber das Herz bricht mir, wenn ich an unser Lieschen denke. Lieber, lieber Gott, erst zehn Jahre alt, und schon sterben zu müssen! Das Kind war so gut und so schön!« fügte sie schluchzend hinzu.
»Zu schön und zu gut für uns, oder der liebe Gott hätte es uns gelassen,« tröstete der Vater die trauernde Mutter.
»Alle Menschen hatten ihre Freude an dem klugen Kinde,« fuhr diese darauf wieder schmerzbewegt fort, »und es lernte so leicht und schrieb so wunderbar schön.«
»Du hast recht, Mutter; doch was helfen die Klagen? Unser Lieschen bringen sie nicht zurück. Liebte doch auch der Herr Pfarrer das Kind, und der mußte es gewiß kennen, denn er hatte es ja getauft; und der sagt: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«
Die Mutter antwortete mit einem tiefen Seufzer. Die Aufmerksamkeit ihres Gatten dagegen wurde jetzt ausschließlich durch die Pferde in Anspruch genommen und durch den Wagen, welchen er nur mit genauer Noth zwischen den Bäumen hindurch zu lenken vermochte.
Nach der Landstraße zu war Alles dunkel, die Schatten des Waldes fielen fast gänzlich mit der schneeerfüllten Atmosphäre zusammen; er zog es daher vor, sich in der Nähe der Schonung zu halten, die, wie er wußte, weiter unterhalb die Straße berührte.
Langsamer noch, als bisher, verfolgten die Pferde ihren hindernißreichen Weg, und oft bedurfte es der Aufbietung aller ihrer Kräfte, den Wagen durch die bankähnlichen Schneeanhäufungen zu schleppen, die sich über den zerstreut stehenden Gruppen kleiner Tannenschößlinge gebildet hatten.
Sie befanden sich nicht mehr weit von der Landstraße, als beim Hineinwaten in eine neue, jedoch hohle Schneebank die Pferde plötzlich erschreckt zur Seite prallten und durch heftiges Schnauben Unruhe verriethen.
Der Bauer, in der Meinung, ein Baumstumpf oder eine Vertiefung habe die Besorgniß der klugen Thiere wachgerufen, versuchte, an dem verborgenen Gegenstande vorbeizulenken; da derselbe sich aber gerade zwischen den Pferden, unterhalb der Deichselstange befand, so erwies sich seine Mühe als vergeblich; er erreichte nur, daß die Thiere noch ungeduldiger und störrischer wurden.«
Doch auch zurück vermochten die Pferde den Wagen, trotz der aufmunternden Worte und des milden Gebrauchs der Peitsche, nicht mehr zu schieben, indem tiefer Schnee und niedriges Strauchwerk die Räder hemmten, so daß der Bauer sich endlich genöthigt sah, abzusteigen, um sich von der Ursache des unwillkommenen Aufenthaltes zu überzeugen.
Seine Frau nahm daher die Zügel, und immer noch freundlich zuredend, begab er sich nach der Spitze der Deichsel hin, wo er das Hinderniß vermuthete.
Kaum aber hatte er den gewölbt liegenden Schnee mit den Füßen zurückgestoßen und demnächst mit den Händen auf der betreffenden Stelle zwischen dem Gestrüpp umhergetastet, da richtete er sich plötzlich wieder empor.
»Guter Gott, ein Mensch!« rief er entsetzt aus; dann aber sich schnell ermannend, trat er zwischen die Pferde, um den Verunglückten gegen deren beschlagene Hufe zu schützen.
Doch die Pferde, sobald sie ihren Herrn vor sich sahen, verhielten sich ruhig, und ohne weitere Scheu zu verrathen, duldeten sie, daß der erstarrte Körper zwischen ihnen hervorgezogen wurde.
»Ach, Mutter, es ist ein Kind,« rief er gleich darauf aus, »aber todt, todt! Gräßlich, ein Kind, und im Schnee umkommen zu müssen!«
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