Stattdessen ackere ich für Annabel, eine der Juniorpartnerinnen, einen ganzen Stapel Akten durch. Immer auf der Suche nach einem Hinweis, dass ihr Mandant sich nicht der Insolvenzverschleppung schuldig gemacht hat. Gegen Mittag komme ich langsam zur Erkenntnis, dass bei ihrem Klienten am besten eine dissoziative Störung in Form von multiplen Persönlichkeiten diagnostiziert werden sollte. Anders lässt sich kaum erklären, wie der Geschäftsmann übersehen konnte, dass seine Firma seit Jahren überschuldet war.
Ich bin beim vorletzten Ordner angekommen, als Milena, unsere Empfangsdame, mein schuhkartongroßes Büro betritt. Wie immer winden sich ihre Haare in mehreren komplizierten Flechten um ihren Kopf, ein Look, der jeden Brautfriseur neidisch machen würde, sieht sie doch aus wie die perfekte Sissi-Kopie. Ich bekomme allein bei dem Anblick Kopfschmerzen.
»Sie müssen sofort los, Mayra!«
»Ich muss vor allem diese Akten durcharbeiten, damit sich Annabel auf ihren Termin vorbereiten kann«, berichtige ich.
»Christine will sich in einer halben Stunde in einem Restaurant namens Blue Parrot mit Ihnen treffen.«
Ich zucke zusammen und spüre, wie sich mein Magen augenblicklich verkrampft. Mühsam hole ich Luft, doch Milena scheint nichts zu merken.
»Ich habe schon ein Taxi bestellt, sonst schaffen Sie das nicht. Das ist irgendwo in Giesing, das Lokal.«
Ja, ich weiß.
»Vielen Dank, Milena«, sage ich mühsam beherrscht, und sie verschwindet wieder.
Okay. Eine halbe Stunde, um mich so weit zu sammeln, damit ich dieses verflixte Restaurant ruhig und gelassen betreten kann, wie es sich für eine besonnene Anwältin gehört. Dabei hatte ich so gehofft, nie wieder einen Fuß in das Blue Parrot setzen zu müssen.
Ich atme einige Male tief durch und überprüfe den korrekten Sitz meines Kostüms, dann verlasse ich das Gebäude, vor dem bereits ein Taxi mit laufendem Motor steht. Um kein Gespräch mit einem geschwätzigen Taxifahrer zu riskieren, steige ich hinten ein. Das kann doch nicht wahr sein! Da habe ich sowieso schon damit zu kämpfen, dass ich ständig den anderen Anwältinnen in der Kanzlei zuarbeiten muss, und jetzt holt mich ausgerechnet diese alte Geschichte wieder ein.
Was will Christine überhaupt dort? Noch nie habe ich gehört, dass sie sich mit einer ihrer Angestellten zum Essen getroffen hat, und selbst wenn, wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass es bei all den Restaurants, die es in München gibt, just das Blue Parrot sein muss?
Dabei wäre mir ein alberner Zufall immer noch lieber als die Alternative: Meine Chefin weiß, dass dieses Lokal eine unrühmliche Rolle in meiner Vergangenheit gespielt hat. Könnte sie davon Wind bekommen haben? Will sie mich darauf ansprechen? Und wenn ja, wie zum Teufel soll ich damit umgehen?
Aber ich bin nicht Anwältin geworden, ohne zu ahnen, dass man in diesem Job in heiklen Situationen ruhig und überlegt handeln muss. Ich konzentriere mich also den Rest der Strecke ausschließlich auf meine Atmung. Was immer mich erwartet – ich schaffe das! Hoffe ich.
Das Taxi hält direkt vor dem Blue Parrot . Das feudale italienische Restaurant hat sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert. Durch die verspiegelte Fensterfront kann man nicht hineinsehen, und der pompöse Eingang mitsamt rotem Teppich und zwei Türstehern, die den Blick eisern in die unendlichen Weiten des Universums gerichtet haben, vermittelt nicht nur den Eindruck von Exklusivität, sondern signalisiert auch eindeutig, dass man hier willens und in der Lage ist, jeden ungebetenen Besucher abzuweisen. Hoffentlich komme ich überhaupt rein. Oder sollte ich besser darauf hoffen, dass nicht?
Während die beiden Türsteher mich gekonnt weiter ignorieren, öffnet ein sehr junger Italiener die Eingangstür, kaum dass ich mich dieser nähere, und kommt mir über den roten Teppich entgegen. Er ist überkorrekt mit schwarzem Anzug und Fliege gekleidet und könnte durchaus als Modell für eine Statue von Michelangelo durchgehen, wäre da nicht diese leicht schiefe Nase mit einem dunklen Schatten an einer Seite.
»Signorina Jennings?«, überrascht er mich. »Sie werden erwartet.«
Ich folge ihm in das Innere des Restaurants, das aus einer Ansammlung lauschiger Nischen besteht, die durch luftige Vorhänge voneinander getrennt sind. Ich zweifle allerdings nicht daran, dass bei Bedarf rasch für mehr Privatsphäre gesorgt werden kann. Im Augenblick sind nur wenige Gäste im Lokal, und ich erwarte eigentlich, dass Christine an einem der runden Tische mit den schweren weißen Leinendecken sitzt. Doch dann entdecke ich meine Chefin mit ihrer auffälligen Löwenmähne und dem eng geschnittenen Kostüm an der Bar. Mir ist eiskalt.
»Mayra, na endlich! Herrn Silvers sollte man nicht warten lassen.«
Aha?
»Wenn die Damen bitte mitkommen wollen?«
Ehe ich mich versehe, haben wir den Gastraum durch eine unauffällige Tür wieder verlassen und folgen dem jungen Italiener durch ein Wirrwarr von breiten Gängen. Unsere Absätze klackern auf dem glänzenden Marmorboden, während unser Führer sich fast lautlos bewegt. Ich hätte ja die Küche des Blue Parrot hier hinten erwartet, stattdessen scheint es eine Unmenge weiterer Räumlichkeiten zu geben, die das reinste Labyrinth bilden. Je tiefer wir in die Eingeweide des Gebäudes vordringen, desto stärker wird das ungute Gefühl in meiner Magengegend. Ich schiele zu Christine hinüber, doch deren Gesicht verrät nichts. Bei mir hingegen verstärkt sich mit jedem Schritt die Befürchtung, zu meiner eigenen Hinrichtung geführt zu werden.
Wir biegen mehrmals ab, der junge Mann in dem dunklen Anzug öffnet etliche Türen für uns, bis wir schließlich zu einer breiten Treppe gelangen, an deren Ende uns eine dicke Glastür mit den eingravierten Buchstaben Alpha Salvage – Unternehmensberatung erwartet.
Das macht jetzt allerdings nicht den Eindruck, als hätte Christine vor, mich mit meinen Jugendsünden zu konfrontieren. Trotzdem fühle ich mich hier extrem unwohl. Wir werden in ein Vorzimmer geleitet, wo uns eine Sekretärin wie aus dem Bilderbuch erwartet. Mittleres Alter, die Föhnfrisur mit tonnenweise Haarspray fixiert, Perlenkette, dezentes Kostüm.
»Ich sage Herrn Silvers sofort Bescheid«, zwitschert sie, entschwindet durch eine Tür – und taucht nicht mehr auf.
Gerne würde ich Christine ja fragen, um was es hier geht, aber die wehrt jeden Versuch, ein Gespräch zu beginnen, mit einer unwirschen Handbewegung ab und verschickt eifrig Nachrichten von ihrem Smartphone. Ich habe nichts zu verschicken, also bleibt mir nichts übrig, als die spartanische Einrichtung zu mustern. Mann, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Annabels Akten mitgenommen!
Gerade als ich anfange zu glauben, dass man uns garantiert vergessen hat, taucht die Sekretärin wieder auf.
»Herr Silvers erwartet Sie.«
Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Zunächst bin ich einfach nur froh, dass ich den Mann, der sich doch noch bequemt hat, uns zu empfangen, nie im Leben gesehen habe und ich mir endlich sicher sein kann, dass es hier definitiv nicht um mich geht. Zum Glück!
Herrn Silvers’ Büro ist ungefähr fünfmal so groß wie meine ganze Wohnung. Das muss allerdings so sein, denn nur so kommt der schwere Konferenztisch aus poliertem Holz richtig zur Geltung. Ob man das Gebäude um den imposanten Tisch herum errichten musste? Überhaupt ist alles hier riesig: der Schreibtisch im hinteren Teil des Raumes, das Ölgemälde einer italienischen Stadt dahinter, die lange Fensterfront – und der Mann, der uns an dem Besprechungstisch erwartet.
Er trägt einen perfekt sitzenden dunklen Anzug, der bei diesen breiten Schultern einfach maßgeschneidert sein muss. Das schwarze Hemd und eine ebensolche Krawatte komplettieren den finsteren Look, obwohl er seine dunkelblonden, glatten Haare um einiges länger trägt, als es normalerweise bei Geschäftsleuten üblich ist. Wirklich gruselig sind aber die breiten silbernen Ringe, die seine Hände schmücken und die eher an die Finger eines Rockers passen würden. Ebenso wie seine Manieren, denn Herr Silvers hält es nicht für nötig, aufzustehen oder uns gar entgegenzugehen, sodass ich alle Zeit der Welt habe, ihn zu mustern, während wir über das glänzende Parkett, das jedem Ballsaal alle Ehre machen würde, auf ihn zugehen.
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