Sina wollte dann unbedingt noch in den Bahnhof. Wir hockten in der Ecke zwischen Parfümerie und Aufzug auf dem Boden, schauten uns die Passanten von unten an und hofften, die Bullen würden nicht so schnell vorbeikommen. Sina musste nicht lange warten. Ein ziemlich alter Typ, vielleicht so um die fünfunddreißig, der übliche Ohrring, unauffälliges T-Shirt, schmuddelige Jeans, schlechte Haut und glasige Augen kam von der Bäckerei zu uns rüber, beugte sich zu uns runter, flüsterte, ob wir lecker Speed haben wollten und versprach uns drei Tage Film.
Sina sah mich an: „Komm schon Prinzessin, kleine Belohnung für deine Hilfe. Wenn du bei uns bleibst, kommst du früher oder später sowieso drauf. Und einmal ist kein Mal. Du bist doch ein kluges, starkes Mädchen, kannst mir ruhig Gesellschaft leisten.“
Wie aus weiter Ferne hörte ich sie so reden. Mir schwindelte ein bisschen und Angst stieg in mir auf, die Angst, es könne für Sina niemals gut werden. Außer vielleicht jemand Anständiges würde sich schrecklich in sie verlieben und sie retten. Das Bild des spanischen Studenten an der Straße, der sie eines Tages mit in den Süden nehmen würde, leuchtete in mir auf und verschwand gleich wieder. An ihren Traum vom Zirkusleben konnte ich jetzt ebenso wenig glauben wie sie. Das zog mich vollkommen runter. Weil ich jetzt kein Spielverderber sein wollte, ging ich mit Sina runter ins Bahnhofsklo. Die fünfzig Pfennig, die sie fürs Pinkeln nahmen, konnten wir uns heute leisten. Im Klo packte Sina ihr Besteck aus, Spiegel, Röhrchen, Klinge, und zog zwei feine Linien auf dem Spiegel. Mann, als ich das sah, wurde ich so neugierig, ich musste es einfach ausprobieren. Und als ich das Zeug durch meine Nase einzog, war es, als flösse reine Energie durch meinen Körper und würde mich aufladen. Ich fühlte mich, als könne mir rein gar nichts mehr jemals passieren, und für ein paar Stunden verließ mich die Angst vor der kommenden Nacht.
Ich hatte mich jetzt zwei Tage nicht gewaschen, und das war ich nicht gewohnt. Eben hatte ich mein Gesicht unter den Wasserhahn gehängt und meine Arme und Achseln gewaschen. Ich hatte mich nicht getraut, mich zwischen den Beinen zu waschen wie Sina am Becken neben mir. Ihr hättet mal sehen sollen, wie die Tussen, die hier aufs Klo gingen, sie anstarrten. Und dann flogen wir auch schon raus. Das wurde hier unten nicht geduldet, dass sich Straßenkinder zwischen Ladys mit Rollkoffern der Körperpflege widmeten. So etwas wie uns durfte es eigentlich gar nicht geben, ihr hättet die mal hören sollen. Meine Klamotten rochen schon ein bisschen komisch. So konnte ich jedenfalls nicht zur Schule gehen, und das hatte ich Axel versprochen.
Jedenfalls überlegte ich die ganze Zeit, wie ich mal nach Hause könnte in mein Zimmer und meine Sachen für die Schule holen, frische Klamotten und Geld, denn das hier wurde doch allmählich schwierig. Also, wenn ich Mama anrief, gäbe es Geld, das glaubte ich wenigstens.
Meine Mutter musste mir helfen. Sie musste doch ein schlechtes Gewissen haben, weil sie mich rausgeworfen hatte. Sie musste doch Angst haben, ich könnte hier verhungern.
Ich lief quer durch den Bahnhof zu den Telefonzellen am Haupteingang und rief sie an. Die Lautsprecheransagen über ein- und abfahrende Züge zerschnitten die Stimme meiner Mutter.
„Hallo, Rose“.
Ich spürte, wie sie sich anstrenge, ihrer Stimme einen fröhlichen und liebevollen Klang zu verleihen.
„Was machst du denn am Bahnhof, wie geht es dir?“.
„Dir ist es doch eh egal, wo ich bin und wie es mir geht, Mama! Ich brauche meine Schulsachen und Geld.“
„Du kannst sie dir abholen kommen und du kannst auch zu Hause bleiben, wenn du aufhörst mich anzubrüllen und mir sagst, wo du dich aufhältst.“
„Mama, du hast mich rausgeworfen. Ich komme nicht mehr nach Hause.“
„Gut, dann komm morgen Nachmittag ins Café um die Ecke vom Atelier. Ich bring dir deine Sachen mit.“
Mama tat so, als wäre alles richtig, wie es war. Ich wünschte mir nur, dass sie mich bat nach Hause zu kommen. Und sie sollte sich bei mir entschuldigen.
Mama strahlte mich an, als ich ins Café kam.
„Rose, wie geht es dir? Es ist so schön, dich zu sehen.“
„Hallo“, mehr brachte ich nicht raus. Wut stieg in mir auf. Ich stand mal wieder voll unter Strom. Ich wollte mich unbedingt zusammenreißen und es gelang mir tatsächlich, nicht gleich auf sie loszugehen und mit Fäusten auf sie einzuschlagen.
„Rose, möchtest du dir etwas bestellen. Die haben hier guten Kuchen.“
Das war mir bekannt, denn in besseren Zeiten hatten wir hier regelmäßig mit meiner Schwester gesessen und die Kuchen durchprobiert. Es nervte mich, dass Mama so fremd tat, und ich bekam Angst, jeden Moment würde auch noch meine Schwester auftauchen. Die suchte nämlich gelegentlich nach mir und versuchte mich zu retten. Sie hatte sogar ihre ganzen Freunde angestiftet. Bald konnte ich mich kaum mehr irgendwo blicken lassen, ohne dass mich jemand von denen anquatschte.
Obwohl ich mir schon vorher fest vorgenommen hatte, Mamas vorhersehbare Einladung zu leckerem Kuchen und Cappuccino abzulehnen, um ja nicht irgendwelche guten alten Zeiten heraufzubeschwören, knickte ich angesichts der in der Vitrine ausgestellten Torten ein und bestellte Milchcafé mit Schokokuchen. Es war ein französisches Café. Die Gäste hockten an zierlichen Holztischen unter Kronleuchtern, lasen Zeitung, plauderten. Alle gut genährt, so zwischen zwanzig und dreißig, von der Uni, gesund und in hübschen, frisch gewaschenen Klamotten. Ich spürte meinen Körpergeruch und ihre Blicke auf mir. Ich konnte noch so eben als übermüdeter, ungepflegter Teenager durchgehen, der offensichtlich Stress mit seiner Mutter hatte.
Meine Mutter reichte mir eine Papiertüte rüber, gefüllt mit einem Schreibblock, Bleistiften, Markern und einem teuren pinkfarbenen Kugelschreiber. Die feinen Sachen sollten mir wohl Lust machen, mich an einen aufgeräumten Schreibtisch zu setzen und französische Vokabeln fein säuberlich in ein dafür vorgesehenes Heftchen zu notieren. Ich stopfte sie in meinen Rucksack.
„Rose, komm mit mir nach Hause. Wir finden einen Weg.“
Sie suchte meinen Blick.
„Du hast mich rausgeworfen“.
Ich hielt die Augen starr auf meinen Teller gerichtet. Ich erwartete ihre Entschuldigung.
Jetzt redete sie auf mich ein. Angeblich hatte sie nicht gewusst, was sie sonst hätte tun sollen. Sie könne mich nicht entscheiden lassen, wann ich abends nach Hause käme, und schon gar nicht, wo ich die Nächte verbrächte. Was ich jetzt mache, dürfe sie sich auch nicht mehr lange ansehen. Wenn ich in den nächsten Tagen nicht nach Hause kommen und mich an Regeln halten wolle, müsse sie mich als vermisst melden und die Polizei würde mich schon irgendwann aufgreifen und heimbringen. Wenn ich nicht bei ihr leben wolle, würde sie das akzeptieren, aber ich könnte auf keinen Fall auf der Straße leben. Das würde sie nicht zulassen. Es gebe gute Internate, in denen Kinder, die es daheim bei ihren Eltern nicht aushielten, ihren Schulabschluss machen könnten.
Mit diesem Gelaber, das sie offenbar lange vorbereitet hatte, war sie entschieden zu weit gegangen. Erst warf sie mich raus und jetzt drohte sie mit der Polizei und wollte mich in ein Internat stecken. Ich nahm meine Sachen und schrie sie an, ich wolle sie nie mehr wiedersehen und sie sei nicht länger meine Mutter.
Sie versuchte mich zu beruhigen. Sie meinte, wir könnten über alles reden und dass ich doch ihr Kind sei und es immer bleiben würde.
Glücklicherweise saßen wir im Café und alle starrten uns an, sonst wäre ich mit Sicherheit auf sie losgegangen, hätte sie gebissen und ihre Arme zerkratzt. Ich schnappte meinen Rucksack und rannte auf die Straße, Kaffee und Kuchen musste ich leider stehen lassen.
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