Johanna Knapp - Wie ich es sehe

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Rose hört auf Cello zu spielen. Sie hat genug davon, den Ehrgeiz ihrer Mutter zu befriedigen, die aus ihr eine Cellistin machen möchte. Ihre maßlosen Wutanfälle führen dazu, dass ihre Mutter sie schließlich vor die Tür setzt. Rose sucht die Freiheit bei einer Gruppe obdachloser Jugendlicher im Rheinpark, verliebt sich in den poetischen Axel und wird von der Polizei in einem Mädchenheim untergebracht. Axel lernt bei einem Spaziergang am Rhein Herrn Geringas kennen. Die heimatlosen Eltern des Professors für baltische Sprachen leben auf dem Campingplatz. Bei Familie Geringas kommen Axel und Rose zur Ruhe, doch können sie auch die drogensüchtige Artistin Sina retten?

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„Hey, jetzt hört euch mal unseren Dichter an“, mischte sich ein Mädchen ein. „Klar, auf so ein Püppchen aus gutem Hause fährst du voll ab. Das ist nicht zu übersehen. Hör mal Süße, glaub mal nicht, dass es hier keine Spießer gibt. Schau mal in seinen Rucksack. Für Bücher gibt er seine Kohle her. Und das Geld klaut er nicht. Nein, er steht jeden Tag um acht auf und geht arbeiten bis um sieben. Du glaubst, dein Verstand und dass du einen Job hast, machen dich zu etwas Besserem“, wandte sie sich wieder an Axel, „dabei hast du genauso wenig ein Zuhause wie wir alle hier. Du bist auch nur ein Stein in der Gosse, den jeder herumkicken kann, und niemand will dich haben, seit du auf der Welt bist. Daran wird sich niemals etwas ändern. Hast du noch was zu rauchen für mich oder zu saufen?“

Ich wäre jetzt wütend geworden und hätte ihr was zurückgegeben, aber Axel sah sie nur freundlich an. Und als ich seinen Blick sah, fühlte ich mich ein bisschen sicherer. Nicht, dass ich besonders ängstlich wäre, aber nun hielt ich mich dicht neben Jill und fürchtete mich vor dem Moment, an dem sie gehen würde. Mir wurde es ganz eng in der Brust bei dem Gedanken, der Zeitpunkt rückte unerbittlich näher, an dem sie nach Hause gehen und ich hungrig in ihren Schlafsack kriechen musste. Aber ich ließ mir natürlich nichts anmerken.

Axel legte seine Hand warm und schwer auf meine Schulter. Dann holte er eine Flasche Wodka aus der Plastiktüte, in der er seine ganze Habe verstaut hatte. Ich bekam die Flasche zuerst und nahm einen ordentlichen Schluck, dann Axel, dann das Mädchen. Sie schüttete sich ordentlich Wodka in den Rachen. Mir wurde warm und die Angst wich einem wohligen Gefühl. Ich sah noch, wie sie eine Weile in der Runde weiter schnorrte. Hier einen Schluck aus der Pulle, da ein Zug an einem Joint und da eine Zigarette. Schließlich wurde sie müde und legte sich zu ihrem Hund. Sie kuschelte sich eng an ihn und nahm ihn in ihre muskulösen braunen Arme. Sie war schön.

„Sina kann auf Händen laufen, Seiltanzen Radschlagen und Feuerspucken“, flüsterte mir Jill ins Ohr. „Für ihre Auftritte hat sie ein Flitterröckchen und eine glitzernde kleine Weste. Die Sachen hat sie im Knast genäht, wo sie eine Schneiderlehre machen musste. Morgen zeigt sie am Dom ihre Kunststücke, wenn sie die Kraft zum Aufstehen findet.“

Jill stand auf und ging. Sie musste um zehn zu Hause sein und hielt sich daran, weil sie Angst hatte, ihre Eltern würden sie wieder in die geschlossene Anstalt einweisen lassen. Jetzt war ich allein hier und hielt mich fest an Axel. Ich trank noch eine ganze Menge Wodka aus Axels Flasche. Und dann legte ich mich neben ihn zum Schlafen. Es war kalt geworden, der Boden war hart, in meinem Kopf drehte sich alles und die Angst kehrte zurück. Die Angst, Axel wäre doch nur ein besoffener, geiler Idiot, die Angst vor den Geräuschen im Dunkeln, von denen ich nicht sagen konnte, wo sie herkamen. Waren es Ratten oder Füchse, die in den Büschen raschelten und schnauften? Würden die Ratten nachts über mein Gesicht laufen? In der Ferne erkannte ich den Klang der Glöckchen der Schafe, die am Tag wie weiße Wolken über die Rheinwiesen zogen, und das gelegentliche müde Kläffen der Wachhunde, die sie treu umkreisten.

No satisfaction

Ich hatte immer geglaubt, wenn du nicht zur Schule gehst und auf der Straße lebst, dann schläfst du jeden Tag, solange du magst, und musst den lieben langen Tag keinen Handschlag tun. Ich weiß auch nicht, wie ich auf diese Idee kam, denn Geld, Essen und Drogen fallen bekanntlich nicht vom Himmel. Gemütlich war es auch nicht. Alle Knochen taten mir weh, mein Mund war staubtrocken, und ich strengte mich an, nicht an mein schönes, breites Bett zu denken, meine weiche Decke, die warme Dusche und das Nutellabrötchen, das ich zu Hause in zwei Stunden wegknuspern würde. Es war erst sechs Uhr. Der Tag war hell und jung. Die Meisen und Spatzen im Baum über uns zwitscherten irre laut. Ich sah einen Fuchs, der den Weg querte und Richtung Rhein lief.

Axel hockte neben mir, schaute in seinen Taschenspiegel und kämmte seine blonden, langen Strähnen aus dem Gesicht.

„Guten Morgen, Prinzessin, ich muss los, arbeiten.“

Ich fragte mich, wo und was jemand arbeitete, der so roch und eine Ratte in seiner Jackentasche trug. Ich versuchte gegen die in mir aufsteigende Angst vor dem langen Tag anzukämpfen und hoffte Axel vor Einbruch der Dunkelheit wiederzusehen.

„Ich lauf jetzt runter zu den Wiesen und hol mir in der Oase einen Stapel Zeitungen“, redete er weiter. „Wenn es gut läuft, dann bin ich sie bis mittags los. Ich habe einen festen Platz vor dem Supermarkt. Die Leute kennen mich, ich habe da schon meine Abonnenten, könnte man sagen. Dann fahr ich zurück zur Oase, esse was, quatsche ein bisschen und hol mir einen weiteren Packen. Die verkauf ich in der Bahn. Nicht ganz so einfach.“

Axel hörte gar nicht mehr auf zu reden. In der Oase trafen sich die Penner und ich machte stets einen möglichst weiten Bogen um den Ort, weil sie stanken und einen anbettelten. Ich hatte das Gefühl, er war stolz auf sich und er vertraute mir.

„Irgendwann habe ich eine Wohnung, glaub mir, Prinzessin. Ich werde nicht auf der Straße verrecken. Ich hab ein Konto bei der Bank, da sind schon ein paar Tausend drauf.“

Dann sagte er mir tatsächlich, was ich seiner Meinung nach machen sollte. Der Junge hatte mich einfach adoptiert.

„Und du, ich möchte, dass du zur Schule gehst. Ich pass auf dich auf, versprochen. Heute Abend kannst du wieder herkommen, du kannst neben mir pennen, ich teil mein Essen mit dir, auch Wodka, wenn ich welchen habe, und dann erzähle ich dir meine Geschichte. Aber gleich bin ich weg hier, und du auch. Morgen früh bring ich dich hin. Heute gehst du alleine, versprichst du’s mir?“

Ich versprach es. Dabei wusste ich genau, ich würde mein Versprechen brechen. Ich konnte ja gar nicht zur Schule ohne meine Sachen. Ich musste erst nach Hause, und da konnte ich auf keinen Fall hin.

Mama kaufte Axels Zeitung auch manchmal, ohne sie zu lesen. Nur um zu unterstützen, dass die Leute etwas taten und ihre Würde bewahrten, wie sie das nannte.

Jetzt wurde auch Sina wach. Ich hörte, wie sie im Schlaf stöhnte und sich hin- und her wälzte. Ich hörte, wie sie vor sich hin schimpfte, sie wisse nicht, wie sie diesen verdammten grausamen Tag überstehen solle und sie brauche unbedingt Stoff, um überhaupt aufstehen zu können. Sie wisse sonst nicht, wie sie das Futter für Balou kaufen sollte, dass sie ja nicht immer klauen könnte, wo sie neulich schon wieder erwischt worden sei. Auf Polizei und Knast habe sie nun gar keinen Bock mehr. Also hieß es auftreten am Dom. Oder gammeln gehen, aber das sei noch schlimmer. Das mache sie nur, wenn sie sich verletzt hätte oder aus sonst welchen Gründen zu nichts mehr in der Lage sei. Für ne Linie Speed würde sie jetzt alles geben, nur hätte sie nichts mehr.

Außer mir hatte das auch der Typ gehört, der auf einer Bank in der Nähe seinen Rausch ausschlief. Ich schätzte ihn auf 25, mit Glatze und Knasttätowierungen an Schultern und Armen. Er schälte sich aus seinem Schlafsack und kam zu uns rüber. Er sah sie nur mit einem dreckigen Grinsen an, und Sina war sofort auf den Beinen, hängte sich an seinen Arm und verschwand mit ihm in den Büschen. Nach zehn Minuten war sie wieder da und machte sich über ein Tütchen weißen Pulvers her.

Jedenfalls konnte ich an diesem Tag nicht in die Schule. Ich hatte nichts zu tun und da konnte ich den Tag genauso gut mit Sina verbringen. Sina interessierte mich einfach viel mehr als die von Jungs, Beauty und Klamotten besessenen Tussen aus meiner Klasse. Für manche von denen war es das Größte, wenn sie ins Einkaufszentrum fahren und im parfümierten Shop der angesagten Tussenmarke, wo die extrem scharf aussehenden Verkäufer oben ohne ihre Kundschaft bedienten, eines der Shirts kaufen konnten, die sich nur durch den aufgedruckten Namen von anderen unterschieden. Das war ihr Ding, aber mir gab das rein gar nichts. No satisfaction .

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