Viele Faktoren liegen unter der Wahrnehmungs-Schwelle.
Reizüberflutung, Ereignisdichte, Innenweltverschmutzung
Reizüberflutung und Ereignisdichte üben permanent Einfluss auf unseren Organismus aus. Auch in Phasen ohne akute Belastung kehren wir kaum mehr auf ein normales Ruhe- und damit Regenerationsniveau zurück. Diese eher wahrnehmbaren Einflüsse wurden in Kapitel 3.1beschrieben, sie sind Thema vieler Forschungsarbeiten. Viel weniger untersucht sind die Wirkungen von Umweltschadstoffen, Strahlung und Partikeln, die als „Innenweltverschmutzung“ unabhängig von wahrnehmbaren Stressoren schon allein und erst recht in Kombination nachhaltige körperliche und psychische Veränderungen nach sich ziehen können.
Die kollektive, multifaktorielle GrundbelastungJeder Einzelne ist heute mehr oder weniger diesem Grundrauschen von wahrnehmbaren und unterschwelligen Stressfaktoren ausgesetzt. Die Synergie dieser Faktoren fördert subklinische Entzündungen und damit chronisch-entzündliche Erkrankungen.Chronisch entzündliche Erkrankungen sind in den vergangenen fünf Jahrzehnten um das zehn- bis 15-fache angestiegen. |
Zu den chronisch-entzündlichen Krankheitsbildern zählen z. B. Asthma, Typ 1 Diabetes, Multiple Sklerose und die diversen Formen von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED). Dieser Anstieg ist nicht durch genetische Faktoren erklärbar. Es sind primär Umwelteinflüsse, die zur Entstehung chronisch-entzündlicher Erkrankungen führen, zunehmend auch bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Das bedeutet, dass Merkmale, die vorindustriell eine Variante des menschlichen Lebens darstellten, z. B. eine genetisch bedingte Minderleistung der Entgiftung, der Entzündungs- oder der Stress-Antwort, unter den heutigen Lebensbedingungen zu einem Krankheitsgenerator werden. |
Antwort auf Zellgefahren
In Kapitel 27.3wird die von Prof. Robert K. Naviaux erforschte „Antwort auf Zellgefahren“ (Englisch: Cell-Danger-Response/CDR) beschrieben. Die CDR ist eine archaische und universelle Antwort auf Bedrohung, Stress oder Verletzungen.
Leben auf SparflammeProf. Naviaux fasst zusammen, dass Mitochondrien durch chronische Stressbelastungen mit der Zeit ihre natürliche Fähigkeit zur Homöostase und zur Selbstregulation verlieren. Die synergistische Summenbelastung führt zur Entstehung unterschiedlichster Stressoren-bedingter Erkrankungen, weil der Organismus nicht mehr regeneriert. |
Die Antwort auf Zellgefahren, Cell-Danger-Response/CDR
„Wenn die CDR ausgelöst wird, werden die Prioritäten eines mehrzelligen Organismus zurückgesetzt, um das Überleben zu optimieren. Die CDR ist so grundlegend für das Überleben aller Lebewesen, dass die gleichen Kernverteidigungen von Stoffwechsel, Entzündung, Immunität, Mikrobiom, Gehirnfunktion, Schlafmuster und Verhaltensänderungen durch viele verschiedene Arten von Bedrohungen aktiviert werden. Das können vielfältige Bedrohungen sein wie eine Infektion, Vergiftung, physische oder psychische Traumata, die immer das gleiche stereotype Krankheitsverhalten auslösen. Diese stereotype Reaktion auf Gefahr umfasst Rückzug aus sozialem Kontakt, Aktivierung der angeborenen Immunität, verminderte Verständigung, unterbrochener Schlaf, Kopf-, Muskel- und Bauchschmerzen, Veränderungen im Darmmikrobiom und erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Berührung, Klang und Licht, die viele Menschen erleben, wenn sie die Grippe haben, oder sich von einer schweren Verletzung erholen.
Es ist die CDR, die diese bekannten Zeichen und Symptome produziert. Auf zellulärer Ebene kann die Reaktion auf die Zellgefahr erst ausgeschaltet werden, wenn die Zelle das endgültige „alles in Ordnung“ Signal empfängt. Bis dahin bleibt die CDR in einer sich wiederholenden Schleife stecken, die weitere Heilung blockiert, um die wahrgenommene Gefahr auszumerzen. Dies kann zu Langzeitleiden, Behinderungen und chronischen Krankheiten führen. Nur wenn eine Zelle Sicherheit wahrnimmt, kann sie vollständig heilen.“ [Ü.d.A.] [Quellenverweise im Original] 3.4/1 Naviaux
Abb. 3 . 4 / 1Schutz und Schadfaktoren
3.4.1 Cocktail-Effekte
Kombinationseffekte sind real. Sie relativieren jegliche Aussagen über „unbedenkliche“ Grenzwerte. |
Fukushima: Systemische Effekte
Im März 2011 wurde Japan von einem Erdbeben mit darauffolgendem Tsunami getroffen. Die Kühlung im Atomkraftwerk fiel aus und es kam zum Super-GAU. Das Risiko eines Erdbebens war berechnet worden, ebenso das Risiko eines Tsunami. Das Auftreten beider Faktoren gleichzeitig und die systemischen Folgen – dafür waren die Vorsorgemaßnahmen nicht ausgerichtet.
Der Fukushima-Effekt im ImmunsystemDerzeit werden Grenzwerte z. B. von Schadsubstanzen linear berechnet, d.h. es wird erforscht, welche Folgen eine Substanz im Organismus erzeugt. Systemische, kumulative, synergistische Effekte werden ausgeblendet. |
Wirkformen von Substanzen, Gasen, Strahlung
Synergistische Wirkung:
Die Wirkung der Noxen ist unterschiedlich, sie wirken interaktiv und verstärken einander: Die potenzielle Schädigung „im Team“ ist stärker.
Antagonistische Wirkung:
Noxen wirken gegenläufig, sie schwächen einander: Die potenzielle Schädigung ist geringer.
Additive, kumulative Wirkung:
Die Wirkung der Noxen ist identisch und summiert sich.
Unabhängige Wirkung:
Die Wirkung der Noxen ist unterschiedlich, aber es kommt nicht zu Wechselwirkungen.
Pestizid-Cocktail
Eine der wenigen Studien, die die sogenannten „Cocktail-Wirkungen“ von Chemikalien erforschten, wurde von einem französischen Autorenteam 2018 veröffentlicht. Dabei wurden zehn trächtige Ratten einer Mischung aus acht Pestiziden ausgesetzt, denen Menschen in der Bretagne üblicherweise ausgesetzt sind. Die Metabolomik-Analyse zeigte mehrere Unterschiede zwischen den Muttertieren der Versuchsgruppe gegenüber der unbelasteten Vergleichsgruppe, insbesondere im Plasma, in der Leber und im Gehirn. Die modifizierten Metaboliten waren am TCA-Zyklus, an der Energieproduktion und -speicherung, am Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsel sowie am Aminosäuren-Stoffwechsel beteiligt. Die Autoren vermuten, dass die Pestizidmischung oxidativen Stress induzieren kann, der mit mitochondrialen Funktionsstörungen und der Beeinträchtigung des Glukose- und Lipidstoffwechsels einhergeht – auch wenn keine einzelne Chemikalie in Konzentrationen vorhanden war, die als „toxisch“ definiert ist. 3.4.1/1 Bonvallot et al.
Cocktail Studie
Eine weitere „Cocktail-Studie“, die im August 2020 als Preprint veröffentlicht wurde, untersuchte die Auswirkungen einer Mischung von sechs Pestizidwirkstoffen, die jeweils in der gesetzlich zulässigen Tagesdosis an Ratten verabreicht wurden. Offensichtliche Veränderungen wie z. B. beim Körpergewicht konnten nicht festgestellt werden. Veränderungen zeigten sich aber in der Zusammensetzung des Mikrobioms sowie bei der Expression von 257 Genen. Bei der Methylierung von Genen zeigte sich ein Unterschied zu unbehandelten Ratten von 10 %. 3.4.1/2 Mesnage et al.
Joghurtbecher und Co.
2019 wurde in der Zeitschrift Environmental Science & Technology eine Laborstudie der Forschungsgruppe PlastX unter der Leitung des Instituts für sozial-ökologische Forschung veröffentlicht. Die Untersuchung von 34 Alltagsprodukten aus acht verschiedenen Kunststofftypen wie Joghurtbecher, Trink- und Shampoo-Flaschen ergab, dass drei Viertel der Produkte schädliche Chemikalien enthielten. Je nach Typ und Anwendung werden dem Basismaterial auf Erdölbasis Zusatzstoffe wie Weichmacher, Stabilisatoren oder Farbstoffe zugesetzt, während des Produktionsprozesses entstehen zudem zahlreiche Neben- oder Abbauprodukte.
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