Brauch war, gehörte auch der neue Schulsprecher dazu, ein Neusprachler und früher Bekannter.
Nach dem Abendessen ergab sich ein Gespräch zwischen uns, das für mich aufschlussreich war.
„Ist das nicht jammerschade um dieses arme, dänische Mädchen, David! Sie waren befreundet?“
Ich runzelte die Stirn und wusste nicht, worauf er hinaus wollte. „Birgit, nun gut, was ist mit ihr?“
„Was denn, Sie wissen von nichts?“-“Nein, ich habe nichts mehr von ihr gehört. Was soll sein?“
“Leukämie! Sie hat offenbar Leukämie. Es sah schlimm aus um sie, als man sie sofort mit dem
Ferienbeginn nach Hause schickte. Am ersten Abend des neuen Semesters riefen riefen Eltern
an, baten mich, die Mitbewohner des Internat-Gebäudes ohne Aufwand darüber zu informieren.“
Ich habe nie erfahren, was aus ihr geworden ist. Ich weiß es heute nicht einmal und will es nicht.
Es gab keine stichhaltigen Gründe, zu mindestens nicht für Dritte oder dafür eine Erklärung, ich
hätte eine Vorahnung gehabt. Als ich in jener Nacht wach lag und an Birgit dachte, erinnerte ich
mich an den Spaziergang für Agamemnon und wie ich davon überzeugt war, dass sie im Herbst
nicht mehr hier im Internat sein wird. Das Wissen beruhte nicht auf die Aussagen, die ich gehört
hatte, sondern auf eine innere Furcht in Vorahnung. Ich war fassungslos. Ob es sich wiederholte,
wusste ich nicht. Eine innere Unruhe überkam mich. Sollte das gleiche mal wiederkehren? Dann
legte ich diese Angelegenheit ad acta und dachte über Birgit nach, wie über meine gute Freundin
beim Theater. Ihr kurzes „Tak“, wenn ich ihr einen Terpentin-Lappen zuwarf, zum Reinigen farbig
verschmierten Hände. Das unbewusste, feste Zusammenpressen der Finger, nachdem der 3. Akt
zu Ende war, wir auf diesen schrecklichen Todesschrei 'Agamemnons' warteten, bis er hörbar war.
Aus dem Inneren des Palastes ertönte der dritte Chor, und ein Bühnenbild löste sich langsam auf.
Dann und wann musste ich dran denken, was wir auf dem Weg zum Internat besprochen hatten.
Sie wollte im Herbst noch bis Jahresende hier bleiben und wie ich ihr darin widersprochen hatte.
Es lief mir ein kalter Schauer den Rücken herunter. Doch versuchte ich, es besser zu vergessen.
Ich behielt sie in Erinnerung, wie die Birgit, die ich einmal gerne gemocht hatte und weiter nichts.
MEIN OXFORD-STUDIUM
Fortan widmete ich meine ganze Aufmerksamkeit einem neusprachlichen Studium in Oxford, das
mich völlig vergessen ließ, womit ich meine Freizeit im Internat verbrachte und ob ich die Fische
im Bach gefangen hatte. Ich musste mich anstrengen, für meine Doktorarbeiten Neues zu lernen.
Neben Deutsch und Französisch lernte ich ein brauchbares Italienisch, es war leicht zu sprechen.
Dänisch hingegen ist eine schwierigere Sprache. In Dänemark spricht man oftmals auch Englisch.
Mir ging Dänemark nicht mehr aus einem Sinn, was ich trotzdem persönlich kennen lernen wollte.
Vielleicht hatte mich Birgits Erscheinung ja mehr berührt, als ich es für mich wahrhaben konnte.
Nach zwei Jahren Oxford, die ich glücklich verbrachte, was meine Examina und Freizeit betraf,
machte ich mir Gedanken, womit ich in der Zukunft meinen Lebensunterhalt begleichen konnte.
Mein Vater hatte für meine Schwester Georgia und mich ein halbes Vermögen in unsere Studien
investiert. Georgi, wie wir sie nannten, hatte mit Bestnoten in Geschichte abgeschnitten und war
wie geschaffen für das Lehramt. An einer Oberschule verdiente sie sich bereits unabhängig Geld.
Wenn unser Vater es mit etwas Taschengeld besiegelte, so weil er auch seine Tochter verwöhnte.
Georgi war drei Jahre älter als ich und verheiratet. Sie hatte ihre vierjährige Tochter Beatrice, kurz
Trixi genannt. Wir hatten ein gutes und leider entferntes Verhältnis, dass uns andere als Kick & Ei
benannten. Es ging nicht überall so harmonisch zu in einer Familie wie bei uns, was ich anderswo
erlebte. Ich war froh darum und hielt es in Ehren. Georgia hatte ihr Staatsexamen für Oberschüler.
Sie war mir stets drei Jahre voraus, egal ob sie nicht mehr auf das Töpfchen ging, eingeschult war,
zur Oberschule wechselte, ihren Ehemann kennen gelernt hatte und ihre Tochter bekommen hatte,
wie sie vor zwei Jahren das Lehramt für Geschichte und Latein einnahm, als Beamtin unabhängig
von anderen finanziellen Zuwendungen. Ich war lebenslang an Sie gewöhnt als ihr kleiner Bruder.
Unser Vater war Ende der Fünfziger, gesundheitlich schwächer geworden, jedoch nicht kränkelnd.
Ich machte mir manchmal Gedanken um sein Antiquitäten-Geschäft in London, das er immer gut
alleine führte. Jahrzehnte lang hatte er sich Wissen angeeignet, um die anspruchsvollen Kunden
zufrieden zu stellen und zu bewahren Es wäre schade drum, wenn jener Laden in fremde Hände
kommen würde. Ich freundete mich mit meiner Vorstellung an, ihn an seiner Stelle weiterzuführen.
In Oxford fing ich Feuer für neue Sprachen, kaufte mir von meinem Taschengeld die Grammatiken
Französisch, Italienisch und Deutsch, einige Sprach-Cassetten für die Aussprache. Dänisch einzig
als Reiseführer mit üblichen Redewendungen, die einem den Reise-Aufenthalt im Land erleichtern.
Doch mit Sprachen konnte man im geschäftlichen Sinn nicht besonders viel anfangen, wie ich fest-
stellte. Sie waren hilfreich bei Auslandsreisen, in der Korrespondenz im Export- und Importhandel,
stellten allein keine Grundlage dar für die gewinnbringende Wirtschaftlichkeit, die einen versorgte.
Ich befand mich in dem Stadium, in dem junge Mädchen in Pferde vernarrt sind, jede freie Minute
dafür nutzen, sie zu striegeln, zu füttern, den Stall zu säubern, in einer Runde führen und ausreiten,
ohne sich bewusst zu sein, ob sie ihre Liebe in Richtung Trabrennbahn, Sechstagerennen, Galopp,
Sport, Dressurreiten oder für die Pferdezucht verwenden. Ob sie Pferdepfleger werden oder Traber.
MEINE NACHFOLGE IM KERAMIKHANDEL
Ich hatte bis jetzt nichts anderes erlebt als das Antiquitäten-Geschäft meines Vaters für die Familie
und neue Sprachen in eigener Vorliebe mit Begeisterung. Ich versuchte, darin eine Schleife binden.
Natürlich fehlte es mir bislang an grundlegendem Fachwissen für den Antiquitäten-Handel. Jedoch
war ich mir sicher, dass ich es nirgends schneller lernen könnte als in dem Geschäft meines Vaters.
An einem Sonntagnachmittag, als unsere Familie zum Kaffee auf der Veranda saß mit dem typisch selbstgebackenen, englischem Kuchen, der eine Tradition war, ein altes Rezept meiner Großmutter,
eröffnete ich feierlich zum ersten Mal die Überlegungen, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.
Ich saß neben Georgi, meiner hübschen, warmherzigen Schwester, die mich bereitwillig anlächelte.
Unsere Mutter blickte auf die gemähten Ernte-Hügel des Hochsommers und wurde nachdenklicher
als sonst. Sie besaß die vollkommene Art der ‚First Lady‘. Sie wusste, wann schweigen besser war
als reden. Ich hätte gern gewusst, was in dem Moment in ihr vorging, der tiefe Verbundenheit war.
Keiner von ihnen hatte irgendeinen Einwand. Die Frage meines Vater erprobte nur eine Sicherheit,
ob ich den Wunsch wirklich aus freien Stücken hege und nicht aus dem Pflichtgefühl seines Sohns.
„Vielleicht ist es eine dumme Frage, David, aber du bist dir sicher, dass du das später nicht bereust
als Oxford-Absolvent? Dass sich nicht ein Gefühl von Standesbewusstsein, oder wie man es nennt,
dem alltäglichen, einfachen Kaufmanns-Dasein entgegen gesetzt wird? Dass du was untergräbst?“
„Um Himmelswillen, Vater, nein!- Das glaube ich nicht! Ich fühle eher Stolz bei diesem Gedanken.
Читать дальше