die Meinung, dass Klytämnestra eine kaltblütige, selbstsüchtige Mörderin war, die Agamemnon in
eigenem Interesse umgebracht hatte, um sich in den Schutz ihres Liebhabers Aigisthos zu stellen.
Sie glaubte, dass sie niemals befürchtete, ihr Verbrechen könnte danach ans Tageslicht kommen.
Zwiespalt trat in mir auf, als ich dies pauschale Urteil, ein viel zu leicht gestricktes Muster, von ihr
vernahm. Dazu war das griechische Theater zu hintergründig in der stilistisch sicheren Wort-Welt.
Ich saß neben ihr mit dem Textbuch in der Hand und las den gesamten zweiten Teil einer Trilogie,
'die Totenspende', um heraus zu bekommen, ob Aischylos dies wirklich so schuldig gemeint hatte.
Fühlte sich Klytämnestra in ihrer königlichen Macht unantastbar, dass sie sich zu dieser Tat erhob?
Lange Zeit nach diesem Mord war es Orest, der Sohn von Klytämnestra, der von Mykene geflohen
war, um seinen Vater Agamemnon zu rächen. Orest kehrte als Fremder zurück, um seine Mutter zu
ermorden. Ich fragte den Regisseur Raybird, ob Klytämnestra ihren Sohn vorher erkannt hatte, und
warum sie kein Wort verlauten ließ in seiner Gegenwart. „Natürlich hatte sie Orest erkannt. Für sie
gab es nichts mehr zu sagen. Das war die Allmacht der Götter, der sie sich in dem Moment beugte.“
Ihr blieb nichts anderes mehr übrig, als ihre Würde zu bewahren. Birgit war in dieser Hinsicht ganz
anderer Meinung. Sie widersprach, dass man zum Schluss Sympathie für die blutrünstige Mörderin
empfinden sollte. Wir stritten uns nicht unbedingt über das Thema. Ich mochte ihre Hartnäckigkeit.
Trotzdem fragte ich nochmals Raybird in Regie, woran sie Orest erkannt hatte? „Ihr Gewissen war
es, das sie verriet. Jahre lang trug sie das Geheimnis in sich und hatte auf Orest beinahe gewartet.“
Birgit war die Nichte der Frau des Hausmeisters, die ihre Tante gelegentlich besuchen kam. Ich sah
sie später als eine Art Leidensgenossin, die nicht in den Respekt von Aphrodite kam und fühlte wie
sie, wenn auch ohne einer Berührung, was sich mein Mitschüler lästernd zur Angriffsfläche machte.
Ich stieß ihn ohne ein Zögern den Hang einer Böschung hinab,- was niemand vorher gedacht hätte.
Ein Junge namens Bill stand in seiner Clique, die lang ausgestreckte Zungen über kalte Eiskugeln
zogen, auf dem Hang und rief mir lauthals hinterher: „Dort kommt der dänischer Torten-Bäcker als
Götterbote Paris und schwebt dem griechischen Theater unter Ausschluss von Aphrodite hinüber.“
Ich hätte es ihm nie zugetraut. Doch statt seine Frotzeleien zu ignorieren oder zu kontern, verübte
ich etwas Unerwartetes aus einem spontanen Gefühl heraus, dass es im Gelände bekannt wurde.
Der Hausmeister, dem ich viel Sympathie entgegen brachte, sprach mich wenige Tage danach an.
„Hallo David, auf dem Weg zu ihrer Freundin, um sich dem griechischen Theater ehrend nützlich
zu machen?“ - “Ja, Sir“, antwortete ich kurz im Vorübergehen. Er hielt mich am Ärmel fest, indem
er mich sachte an sich heranzog. „Nur ruhig Blut“, sagte er. „Wissen Sie, solch Frotzeleien, wenn
die auch nicht nett sind, muss man nicht gleich mit derart drastischen Maßnahmen beantworten.“
Wir lächelten uns an. „Tut mir leid, Sir. Das wird nicht wieder vorkommen“, sagte ich schlicht wie
begreifend. Ich erfuhr von ihm, dass sich Bill beim rasanten Absturz seinen Arm gebrochen hatte.
Zum Glück gab es einen Zeugen in der Clique, der klar bestätigte, dass dies Bill angestiftet hatte.
Mich verwunderte die Aussage eines Kameraden,- doch musste ihn mein Gefühl verdutzt haben.
Als würde man in eine andere Welt versetzt werden, wenn ein Fisch gefühlvoll zu Jungen spricht.
Das Image am College nahm die Kehrwende vom schüchternen Einzelgänger zum respektierten
Mitschüler, der im Vergleich zu anderen eine Freundin hatte,- die in der Reife Mädels voraus war.
VORAHNUNGEN
Ich erfuhr viel Interessantes über Dänemark, dass ich ihr versprach, sie in den Semesterferien zu
besuchen, um mir den Dom des 13. Jahrhunderts unter anderen Sehenswürdigkeiten anzusehen.
„Vielleicht gelingt es mir sogar schon vor Jahresende zu Weihnachten, wenn ich meine Eltern in
diesem Jahr nach Weihnachten wiedersehe. „Es wäre wunderbar, doch bin ich Jahresende nicht
dort.“- “Hast du nicht gesagt, dass du Weihnachten in Dänemark feierst?“ “Das habe ich niemals.“
Ich wunderte mich. Ich war davon überzeugt, dass ich dies gestern aus ihrem Mund gehört hätte.
„Das habe ich nicht gesagt!“ bekräftigte sie wiederholt ihre Worte mit einer üblichen Willensstärke.
„Dann hat es dir jemand anderes gesagt.“ Ich überlegte, dass ihr Onkel es mir nicht gesagt haben
konnte. Letzte Zeit hatte ich ihn als Hausmeister, sowie auch sonst nicht weiter mehr gesprochen.
Woher sollte ich das wissen? Wer hatte mir das gesagt, was sich bei ihr als Gerücht herausstellte.
Ich erinnerte mich an eine ähnliche Situation, als ich elf Jahre alt war und meinte, eine Bekannte
meiner Mutter im Restaurant eines Nachbarortes gesehen zu haben, als ich mit meinem Fahrrad
unterwegs war. Frau Whitle, die kurz zu uns zum Tee herein gekommen war, beteuerte, dass sie
nicht in Newstown gewesen sei, und ich mich irrte. Ich war felsenfest überzeugt, dass sie es war.
Meine Mutter schickte mich in den Garten, ein Bund Petersilie zu pflücken und fing mich dann ab.
Auf der Veranda, als ich mit einem Büschel vor ihr stand, sagte sie: „David, ich bin mir sicher, du
hast Recht. Doch aus einem bestimmten Grund will sie es uns nicht sagen.“ “Warum nicht, Mutti?“
„Ich weiß es nicht. Doch sollten wir es dabei besser belassen.“ Sechs Wochen später wurde Frau
Whitle geschieden und war zusammen mit ihrem Liebhaber nicht mehr in dieser Region ansässig.
Sie verließ uns mit ihm. Natürlich war ich in dem Alter nicht in der Lage, diese zwei Ereignisse zu
verbinden. In einer Sache, Birgit in Dänemark zu treffen, lag das aber anders als bei Frau Whitle.
Was sollte mich darin täuschen wollen und wofür? Auch hier war ich mir absolut sicher, dass ich
es gehört hätte, dass Birgit zum Jahresende in der Heimatstadt sein würde, verflixt wie zugenäht.
Sie war es selbst, die zaghaft den Vorschlag gemacht hatte, dass ich Dänemark besuchen sollte.
Doch gab es noch einen anderen Grund, der mich davon abhielt, darin weiter zu forschen. Dabei
spürte ich deutlich diese Angst vor Unheilvollem, wenn auch nicht bewusst. Als sei ich gestolpert
über den Stein, den ich besser liegen ließ. Wie ein Kind, das Böses ahnt, ohne real zu verstehen.
Da war etwas Irritierendes an der Sache, was mir intuitiv im Gefühl kund gab, es nicht zu wissen.
Als Agamemnon gelaufen war, trafen wir uns nur selten, bis ich sechs Wochen vor Semesterende
erfuhr, dass ich meine Eltern in Spanien besuchen musste mit dieser erregenden Aussicht auf ein
Stipendium für Oxford. Die letzte Zeit im Internat verlief flüchtig, verging in Windeseile, mit ganzer
Konzentration auf mein Ziel: in Deutsch und Französisch mein Diplom zu schreiben. Während ich
mich von Birgit zunehmend entfernte, vergaß ich dies, sie in Kopenhagen einmal wiederzusehen.
Unerwartet zu Beginn des Herbstsemesters bekam ich in Oxford Post von dem Hausmeister aus
Blessfill. Er schrieb mir ein paar kurze Zeilen, dass er hoffe, dass es mir gut ginge und lud mich
ein zum „Abendessen der Ehemaligen“ im November. Ob ich nicht Lust hätte, mit dabei zu sein
und mir eine neue Inszenierung von Raybird anzusehen. Pflichtbewusst tauchte ich auf und war
gespannt auf das Schauspiel der neuen Internatsschüler. Wie bei solchen Gelegenheiten es alter
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