O Milly Darrell, meine herzensgeliebte Freundin, auf welche Weise soll ich beschreiben, wie Du an diesem Abend vor meinen Augen erschienen bist? Wie wenig vermögen meine Worte Deine jungfräuliche Schönheit zu schildern, wie Du in diesem schwach erleuchteten Schulzimmer mit himmlischer Theilnahme in deinen dunkeln beredten Augen zu mir niederblicktest!
Gerade in diesem Augenblicke war ich so elend und so geneigt, in meinem Elend mürrisch zu sein, daß selbst der Anblick dieses freundlichen Gesichts mir wenig Vergnügen machte. Ich stieß die sanfte Hand verdrießlich zurück und erhob mich rasch von meinem Sitze.
»Bitte, weinen Sie nicht mehr,« sagte die junge Dame, »ich kann Sie nicht so weinen hören.«
»Ich werde nicht mehr weinen,« antwortete ich, in rascher heftiger Weise meine Augen trocknend.
»Es war sehr thöricht von mir, überhaupt zu weinen; aber dieser Platz hatte ein so freudloses trauriges Aussehen und ich dachte an Vater und Mutter und an Alles, was ich zu Hause verlassen habe.«
»Es war ganz natürlich, daß Sie an dieselben dachten. Alles kommt uns am ersten Abend so kalt und düster vor; aber Sie sind doch sehr glücklich, daß Sie so viele Lieben zu Hause haben. Ich habe nur meinen Papa.«
»So!« sagte ich, kein besonderes Interesse für ihre Angelegenheiten hegend.
Ich blickte sie an, wie sie ein wenig an den Tisch gelehnt dastand und nachlässig mit den an ihrer goldenen Kette hängenden Kleinodien spielte. Sie war wirklich sehr schön, eine Brunette, mit einer kleinen graden Nase, mit braunen Augen und dunkelbraunen Haaren. Ihr Mund war der schönste, den ich in meinem Leben gesehen hatte und gab ihrem Gesichte einen unaussprechlichen Reiz. Ihr Kleid bestand aus violetter Seide mit reichem weißen Spitzenbesatz am Hals und an den Aermeln.
»Sie werden die Dinge viel angenehmer finden, wenn die Mädchen zurückkommen. Natürlich ist die Schule im Vergleiche zum elterlichen Hause immer ein wenig langweilig. Man ist ja darauf vorbereitet, aber ich zweifle nicht daran, daß Sie sich hier ebenfalls auch glücklich fühlen werden und ich hoffe, daß wir sehr gute Freundinnen sein werden. Ich glaube, Sie müssen die Miß Crofton sein, von der ich in der letzten Zeit sprechen hörte?«
»Im mein Name ist Crofton — Mary Crofton.«
»Und der meinige ist Emily Darrell. Zu Hause und von Allen, die mich lieben, werde ich Milly genannt. Ich bin eine Pensionärin mit eigenem Zimmer und kann nach Gefallen im Hause herumgehen. Ich bin, wie Sie sehen, zu alt für die Schule, aber ich werde zu Ende dieses Jahres nach Hause zurückkehren. Ich wurde daheim von einer Gouvernante erzogen; aber dann setzte sich Papa in den Kopf, ich würde unter Mädchen von meinem eigenen Alter glücklicher sein und schickte mich in das Institut. Er ist seit dieser Zeit auf Reisen und so bin ich während der Weihnachtsferien nicht zu Hause gewesen. Sie können sich denken, wie unangenehm dies war.«
Ich versuchte theilnehmend auszusehen und, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, fragte ich, ob Miß Darrells Vater in der Nachbarschaft wohne.
»O nein,« antwortete sie, »er wohnt über hundert Meilen entfernt in einem sehr wilden Theile von Yorkshire, nicht weit von der See. Aber Thornleigh — das ist der Name unseres Hauses — ist ein so theurer alter Platz und ich liebe unser wildes Land mehr als den lieblichsten Ort in der Welt. Ich bin dort geboren und alle meine glücklichen Erinnerungen an meine Kindheit und meine Mutter sind mit diesem theuren alten Hause verknüpft.«
»Ist es schon lange her, seit Sie Ihre Mutter verloren haben?«
»Zehn Jahre Ich liebte sie so sehr. Es giebt Gegenstände, über die man nicht zu reden wagt. Ich traue mir nicht oft zu, über sie zu sprechen.«
Nach dieser Aeußerung fühlte ich mich etwas mehr zu ihr hingezogen. Zuerst war es mir vorgekommen, als ob sie durch ihre Schönheit und ihren hübschen Anzug eine gewisse Ueberlegenheit mir gegenüber ausübe; ich hatte das Gefühl, als ob sie ein Wesen anderer Art -— ein frohes glückliches Wesen sei, das von den gewöhnlichen Leiden des Lebens nicht berührt werde. Aber jetzt, wo sie von ihrem eigenen Kummer gesprochen hatte, fühlte ich mich auf gleichem Standpunkt mit ihr und ich stahl meine Hand schüchtern in die ihrigen und murmelte eine Entschuldigung über meine frühere Unhöflichkeit.
»Sie waren nicht unhöflich. Ich wußte, daß ich Ihnen sehr zudringlich erscheinen mußte, als ich Sie störte, aber ich konnte es nicht ertragen, Sie so weinen zu hören. Und nun sagen Sie mir, wo Sie schlafen.«
Ich beschrieb das Gemach so gut ich konnte.
»Ich weiß, welches Sie meinen,« sagte sie, »es befindet sich neben meinem Zimmer. Ich genieße das Vorrecht, ein solches für mich zu besitzen und habe an halben Ferientagen ein Feuer dort, während ich meine Briefe schreibe oder male, und Sie müssen zu mir kommen und diese Nachmittage bei mir zubringen und wir können miteinander so glücklich als möglich sein, indem wir plaudern und arbeiten. Malen Sie auch?«
»Ein wenig — so nach Schulmädchen Art.«
»Ganz so wie ich,« sagte Miß Darrell, fröhlich lachend; »nur sind Sie bescheidener. O, hier kommt Ihr Abendessen; darf ich mich zu Ihnen setzen, während Sie es verzehren?«
»Es wird mich freuen, wenn Sie mir Ihre Gesellschaft schenken wollen.«
»Ich hoffe, Sie haben für Miß Crofton ein gutes Abendessen gebracht, Sarah,« fuhr sie in derselben leichten Weise fort. »Sie müssen wissen, Miß Crofton, daß Sarah ein sehr gutes Wesen ist, obschon sie Fremden gegenüber ein wenig mürrisch erscheint. Es ist dies nur eine angenommene Gewohnheit von ihr. Ich versichere Ihnen, sie kann auch lächeln, obschon Sie es kaum glauben werden.«
Sarahs harter Mund verzog sich darauf zu einer Art von Grinsen.
»Es ist nicht mit Ihnen auszukommen, Miß Darrell,« sagte sie, »Sie haben eine so eigene Art und Weise. Ich habe für Miß Crofton etwas kaltes Rindfleisch gebracht; wenn sie aber ein bisschen eingemachtes Obst dazu wünscht, so will ich gerne die Köchin darum ersuchen. Kaltes Fleisch ißt sich ohne Zuspeise ein wenig trocken.«
Dieses »Bisschen Eingemachtes« war offenbar ein Zugeständniß, das man mir, Emily Darrell zu gefallen, gemacht hatte. Ich dankte Sarah und sagte, ich wolle sie nicht bemühen, nochmals in die Küche zu gehen. Ich war von meiner Reise ermüdet und hatte seit Morgens nichts gegessen; aber das köstlichste Mahl würde mich diesen Abend gleichgültig gelassen haben. So setzte ich mich schweigend zu meinem Abendessen von Brod und Fleisch nieder und hörte, während ich aß, dem Geplauder von Milly Darrell zu.
Natürlich sagte sie mir Alles in Bezug auf die Schule, über Miß Bagshot und Miß Susan Bagshot.
Für die ältere der beiden Damen hegte sie eine besondere Zuneigung. Miß Susan war in der entfernten Zeit ihrer Jugend das Opfer irgend einer unglücklichen Liebesgeschichte gewesen, was ihren Charakter so versauert hatte, daß sie auf die Vergnügungen und Thorheiten der Jugend mit scheelem Auge blickte. Es war leicht, Miß Bagshot, die Aeltere, welche ein angenehmes matronenartiges Wesen an sich hatte und eine wahre Zuneigung zu ihren Zöglingen hegte, zufriedenzustellen, aber fast unmöglich, mit Miß Susan auszukommen.
»Und ich sage es mit Bedauern, daß Sie sehr viel mit ihr in Berührung kommen werden,« bemerkte Miß Darrell kopfschüttelnd, »denn Sie werden die zweite englische Klasse unter ihr erhalten — ich hörte sie dies heute beim Mittagessen sagen — und ich fürchte, sie wird Ihnen das Leben sauer genug machen; aber Sie müssen versuchen, nicht ärgerlich darüber zu werden und die Dinge so ruhig als möglich hinzunehmen und Sie werden sich dann gewiß auch mit ihr auf guten Fuß stellen.«
»Ich hoffe es wenigstens,« sagte sich traurig und dann fragte mich Miß Darrell, wie lange ich zu Albury Lodge zu bleiben gedenke.
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