„Drum will ich ja arbeiten gehen.“
Tante Klara seufzte schwer geprüft angesichts von so viel Ignoranz. „Spar dir deine Widerrede. Es ist eine beschlossene Sache. Dein Onkel wird heute anfangen, sich nach geeigneten Kandidaten umzuhören.“ Sie zeigte an, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet sei.
Dies hätte Marie besser akzeptiert, aber in ihr kochte angesichts dieser Willkür eindeutig das Blut. „Und was ist, wenn ich mich weigere?“
Daraufhin richtete Tante Klara zum ersten Mal an diesem Morgen den Blick auf ihre junge Verwandte. „Du weißt genau, dass du nicht länger hierbleiben kannst. Dazuhin würde sich dein Onkel bei einer Zuwiderhandlung genötigt sehen, deine Schwester im Armenhaus der Stadt unterzubringen und du kannst dir sicher denken, was das bedeutet.“
An dieser Stelle wachte ich auf. Ich brauchte dieses Mal echt lange, bis ich mich in meiner Gegenwart zurechtfand.
Beim Mittagessen wenige Tage später fragte Mona unvermittelt: „Was ist eigentlich mit dir los, Ronja?“
Aus meinen Gedanken hochschreckend, entgegnete ich reflexartig: „Was soll schon los sein? Nichts.“
„Red keinen Blödsinn. Du wirkst die halbe Zeit abwesend.“
„Es geht mir gut“, erklärte ich reichlich unglaubwürdig. Deshalb schob ich „gerade ist nur jede Menge los“ hinterher.
„Was zum Beispiel?“
„Ach, du kennst doch meinen Hang, unorthodoxe Aufgaben an mich zu reißen. Letztes Wochenende habe im Sternehaus ausgeholfen.“ Das Sternehaus ist eine Unterkunft für Menschen mit Handicap ganz in meiner Nähe, wo ich seinerzeit mein Praktikum hatte machen wollen. Aus irgendeiner Anwandlung heraus war ich neulich auf die Idee gekommen, dort vorbeizuschauen. Das Personal muss mein Interesse gespürt haben und bot mir an, ein Wochenende mitzuarbeiten. Es war herausfordernd gewesen und hatte mir trotzdem sehr gefallen.
„Spielst du immer noch mit der Idee umzusatteln?“ Mona schaute mich forschend an.
Das war eine schwierige Frage. Ich hatte an diesem Wochenende gespürt, dass mein Herz während einer solchen Arbeit deutlich eher bei der Sache war, als beim Bearbeiten von Kundenanfragen. Gleichzeitig weiß ich, dass es verrückt ist, einen gutbezahlten, sicheren Job aufzugeben, um eine Ausbildung anzufangen, die auf lange Sicht zu schlechten Arbeitszeiten, geringer Bezahlung und Knochenschinderei führt. „Vielleicht.“
Mona nickte düster. „Was hältst du davon, wenn du einfach der Reihe nach erzählst, was dir auf dem Herzen liegt.“
Das war mein Startschuss. Ich versuchte in den folgenden Minuten in Worte zu fassen, was eigentlich unmöglich schien, berichtete von meinen letzten Träumen und den Überlegungen dazu, zeigte ihr das Familienbild auf meinem Handy und erzählte von dem Prospekt, auf dem das Schwachsinnigen- und Krüppelheim abgebildet ist.
Mona unterbrach mich kein einziges Mal. Zwischendurch vergaß sie sogar zu kauen, obwohl sich Spaghetti Carbonara auf ihrem Teller befanden, weil sie sich heute ausnahmsweise keine Diät verordnet hatte.
Als ich endete, schwieg sie immer noch und machte den Eindruck, als wolle sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, erst nachdenken, bevor sie losredete. „Die Sache ist fast ein bisschen unheimlich, Ronja. Hast du mal über Seelenwanderung oder Reinkarnation nachgedacht?“, meinte sie schließlich.
„Falsche Fraktion. So was gibt es bei uns Christen nicht.“
„Was hast du sonst für eine Erklärung?“
Ich zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß bloß, dass man das, was ich momentan erlebe, Klarträume oder luzides Träumen nennt.“ Wikipedia hat mir neulich freundlicherweise geholfen, meine nächtlichen Visionen einzuordnen.
„Und das heißt?“
„Man ist sich die ganze Zeit über im Klaren, dass man träumt, auch wenn man, genau wie beim normalen Traum, nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf die Handlung besitzt. Darüber hinaus hat man aber den Eindruck real zu fühlen, zu hören, riechen, denken, sehen und zu schmecken, teilweise sogar plastischer als im wirklichen Leben. Es gab Leute, die auf diese Weise Probleme gelöst oder komplexe chemische Formeln entdeckt haben. Denn das Schöne daran ist: Wenn man aufwacht, bleibt die Erinnerung an das Erlebte vollständig erhalten, als wäre es in echt passiert.“
„Abgefahren“, sagte Mona, wirkte aber nicht, als ob sie das ebenfalls bräuchte. „Und warum sind deine Träume ausgerechnet hundert Jahre alt und handeln von deinen Vorfahren?“
„Ich schätze mal, weil ich Bilder von ihnen gesehen habe, die mich aus irgendeinem Grund beeindruckten. Das Familienfoto hing jahrelang bei meiner Oma im Schlafzimmer. Als Kind war ich wohl ein paar Mal bei ihr zu Besuch. Und der Prospekt von der Diakonissenanstalt ist für jeden frei zugänglich.“ Woher ich jedoch zu wissen glaubte, wie mein Urahn gerochen hat, überstieg jegliche Logik.
Obwohl ich ihr Letzteres aus gutem Grund unterschlug, erkannte meine Freundin die Mängel in meiner Argumentation sofort. „Von ein paar alten Bildern entsteht normalerweise keine detaillierte Geschichte.“
Das war mir vom Prinzip her klar. Trotzdem entgegnete ich bemüht locker: „Du kennst meine blühende Phantasie.“ Wieso diese aber jede Menge intime Dinge von Menschen zu kennen meint, denen ich nie begegnet bin, finde ich phasenweise selbst äußerst beunruhigend. Beginnt so Schizophrenie? Indem sich ein Gehirn selbständig macht?
Zum Glück riss mich das freche Grinsen meiner selbsternannten Lebensberaterin aus meinen ungemütlichen Überlegungen. „Das ist allerdings ein Pluspunkt für dich, meine Liebe. Ich finde es übrigens echt krass, wie ähnlich du deiner Ur-Großmutter siehst.“ Sie nahm mein Handy, zoomte meine Doppelgängerin zu sich heran und studierte sie nochmals eingehend.
Ich nickte, das zweite fehlende „Ur“ großzügig ignorierend. „Vor allem, weil der Rest meiner Verwandtschaft optisch in eine total andere Richtung geht.“
Monas Zeigefinger verschob daraufhin die Großaufnahme wenige Zentimeter nach rechts. Als Konsequenz tauchten ein Paar charmante Grübchen in ihren Wangen auf, die bei Männern wie Wunderwaffen wirken. Sie flirtete doch nicht etwa mit einem Bild? Ihr Blick verweilte zumindest wohlwollend auf meinem Ahnherrn. „Vermutlich in die deines Urerzeugers, des gutaussehenden Gynäkologen.“ Diesen Teil meiner Geschichte hatte sie vorhin mit sichtlichem Behagen aufgenommen. „Ein bisschen kann ich dich sogar verstehen. Mit so jemand hätte ich auch gern mal eine Hochzeitsnacht verbracht. Wobei die Vorstellung, dass er heutzutage 130 Jahre alt sein dürfte, natürlich etwas pervers und gruselig ist.“ Sie gab mir bedauernd mein Handy zurück.
„Und was soll ich jetzt machen?“ Eigentlich war das eine rein rhetorische Frage. Was konnte man schon gegen verrückte Träume unternehmen? Schlafmittel nehmen? Milch mit Honig trinken? Am besten wäre wohl eine generalisierte Gehirnwäsche, inklusive Fleckenlöser, Weichspüler und gründlichem Schleuderprogramm.
Mona ließ sich von lautem, fatalistischem Denken keineswegs abschrecken. Sie drückte mitfühlend meinen Arm und erklärte: „Auch, wenn dein Uropi voll knackig aussieht, müssen wir versuchen, diese Sache aus deinem Kopf zu bringen. Man darf sein Leben nicht an verstorbene Leute hängen. Es genügt, wenn deine Oma so drauf ist.“ Plötzlich kam ihr eine Idee und sie zeigte sich sogleich wild entschlossen. „Ich werde die nächsten Nächte bei dir schlafen. Wenn ich merke, dass du zu träumen anfängst, männliche Gestalten in weißen Nachthemden auftauchen oder es in irgendeiner Form unheimlich wird, wecke ich dich.“
Als ich widersprechen wollte, weil ein abenteuerlustiger Teil von mir, trotz aller Dramatik, ja auch Gefallen an diesen nächtlichen Ausflügen fand, hob sie gebieterisch die Hand und sprach: „Keine Widerrede. Ich stehe um Punkt zehn Uhr bei dir auf der Matte. Warne deine Mitbewohner bitte vor. Ich will weder hinterrücks einen Minigolfschläger über die Rübe bekommen, noch alten Männern in Feinripp-Unterhosen begegnen.“
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