Mitte Dezember bekam ich urplötzlich und ohne besonderen Auslöser wieder heftige Rückenschmerzen. Sie waren nicht auszuhalten. Selbst meine Voltaren halfen nicht. Ich konnte weder liegen, sitzen, noch gehen. Ich lag im Bett und weinte vor Schmerzen!
Ina fuhr mich zum Orthopäden. Die Schmerzspritzen, welche mir sonst Linderung verschafften, schlugen auch nicht mehr an.
Zwei Tage vor Weihnachten bekam ich endlich einen Termin für die Computer-Tomografie. Das Ergebnis war erschreckend. Eine Bandscheibe im Lendenwirbelbereich war so kaputt, dass sie die Nerven in der Wirbelsäule quetschten. Es war ein Wunder, dass noch keine Lähmungserscheinungen in meinen Beinen aufgetreten waren.
»Sie müssen sofort operiert werden. Ein falscher Schritt, und Sie landen im Rollstuhl«, war die dramatische Aussage meines Orthopäden. Er wollte mich sofort in die orthopädische Klinik, im Ostseebad Damp, überweisen. Aber ich weigerte mich. »Übermorgen ist Heiligabend. Da will ich zuhause sein.«
»Gut«, sagte der Arzt, »ich kann Sie in gewissem Maße verstehen. Dann müssen Sie jedoch das Risiko selbst tragen. Ich besorge Ihnen aber einen Termin für den 2. Januar.«
Ich war einverstanden. Aber noch nie war ich operiert worden. Ich hatte fürchterliche Ängste.
Die Weihnachtstage vergingen und die Schmerzen waren immer noch da. Obwohl ich massenhaft Tabletten schluckte, hatte ich nur ganz kurze Phasen, in denen sie erträglich waren. Den ganzen Tag lag ich auf dem Sofa und quälte mich. Ich dachte daran, dass in einigen Monaten unser Kind zur Welt kommen würde. Wenn mein Zustand andauern sollte, könnte ich das Baby noch nicht einmal auf dem Arm halten. Dieser Gedanke machte mich zunehmend depressiv. Nein, das war kein Leben mehr!
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Am Morgen des 2. Januar 1989 hatte Ina meine Reisetasche gepackt. Während der einstündigen Fahrt zur Klinik sprach ich kaum ein Wort. Die Angst vor der Operation hatte mich regelrecht gelähmt. Was wäre, wenn die OP schief gehen würde. Ich hatte so viele negative Dinge gehört.
Ina versuchte mir Mut zu machen. »Die Ärzte machen solche Operationen mehrmals täglich. Die haben mittlerweile Erfahrung und Routine bei Bandscheiben-Operationen. Es wird schon alles gutgehn.«
Doch meine Angst konnte sie mir nicht nehmen.
Im Krankenhaus wurden die Eingangsuntersuchungen durchgeführt. Merkwürdigerweise waren die Schmerzen etwas geringer geworden. Und der aufnehmende Arzt gab mir wieder etwas Hoffnung.
»Wir werden Sie ersteinmal eine Woche beobachten. Auch wenn die CT-Aufnahmen nicht gut aussehen, heißt das noch lange nicht, dass wir Sie operieren müssen. Sie haben ja Gott sei Dank noch keine Ausfallerscheinungen in den Beinen. Wir warten noch etwas. Am Ende der Woche werden wir dann Belastungstests durchführen.«
Ich atmete durch, denn ich war davon ausgegangen, dass ich bereits morgen unters Messer müsste. Nun hatte ich also Aufschub.
»Und wie sehen solche Tests aus?«, fragte ich.
»Wir hängen kleine Gewichte an Ihre Beine. Die werden Sie dann anheben müssen«, beantwortete der Arzt meine Frage.
Tatsächlich gingen die Schmerzen phasenweise etwas zurück. Am Montag war ich eingeliefert worden und ich hatte Hoffnung geschöpft. Doch am Mittwoch ging die Quälerei wieder los. Nie würde ich die angekündigten Belastungstests durchhalten!
Im mittleren Bereich der Etage, auf der sich meine Krankenstation befand, war eine Raucherecke eingerichtet. Immer wenn es mir möglich war, ging ich dort hin.
Da saßen sie alle. Operierte Patienten und solche bei denen es sich noch herausstellen sollte, ob ein Eingriff vorgenommen werden musste. Ich war nicht der Einzige, der große Angst vor einer Operation hatte.
Die vor zwei oder drei Tagen frisch Operierten waren sofort zu erkennen. Sie standen kerzengrade an der Wand oder mit dem Rücken an den vorhandenen Steinsäulen. Sitzen durften und konnten sie nicht, das würde noch einige Zeit dauern.
Natürlich war ich an allem interessiert, was die Geschädigten zu erzählen hatten. So schlimm würde es nicht sein, berichteten mir die meisten. Hauptsache, die Schmerzen wären weg. Einer sagte: »Du gehst mit wahnsinnigen Schmerzen in den OP - und ein oder zwei Stunden später, wenn Du wieder aufwachst, bist Du vollkommen schmerzfrei.«
Auch wurde bildhaft beschrieben, wie so eine Bandscheiben-OP durchgeführt wird. Wie man auf eine Art Bock gelegt wird, damit die Chirurgen schön sauber schneiden könnten. Dann würde man wieder zugenäht, denn der nächste Patient wartete bereits in der OP-Schleuse.
»Die operieren hier von früh morgens bis spät abends. Pro Tag etwa zehn Operationen - Lendenwirbel und Halswirbel. Wie am Fließband.«
Mir wurde mulmig. Trotzdem war mir klar, dass ich früher oder später auch rankommen würde.
Ein elender Feigling war ich! Was würde mein Sohn zu so einem Weichei von Vater sagen. Ich rang mit mir. Mit meiner Angst, meinem Stolz und meiner Achtung vor mir selbst.
Am Abend wurden die Patienten, die am nächsten Tag unters Messer sollten, von den jeweiligen Chirurgen aufgesucht. Die Ärzte sammelten dann immer die Unterschriften ein, mit der die armen Schweine ihre Zustimmung gaben, nachdem sie auf die Risiken des Eingriffs hingewiesen worden waren.
Ich hatte mich wieder in die Raucherecke geschleppt und steckte mir vor lauter Nervosität eine Zigarette nach der anderen an. Mein Herz klopfte, als ich Doktor Sievers, meinen zuständigen Arzt, über den Flur huschen sah. Wenn er wieder zurückkommt, würde ich ihn ansprechen. Ich hatte mich entschlossen. Aber mir ging’s nicht gut dabei.
»Doktor Sievers - kann ich Sie kurz sprechen?«
Er blieb stehen. »Ja, was kann ich für Sie tun?«
»Ich, ... ich habe mich entschieden. Ich möchte doch operiert werden. Die Schmerzen werden nicht weniger.«
Ich legte ihm meine Gründe dar. Dass meine Frau schwanger sei und ich für mein Kind gesund sein wollte. Vergaß aber nicht zu erwähnen, welche fürchterliche Angst in mir war. »Können Sie dafür sorgen, dass ich dann aber gleich als Erster rankomme?«
»Gut, ich werde es versuchen. Aber Notfälle gehen vor. Ich verspreche aber, dass Sie so früh wie möglich dran sind.« Er verabschiedete sich. »Morgen besprechen wir die Einzelheiten.«
Mir war ein Stein vom Herzen gefallen. Über meinen Mut war ich sogar etwas stolz. Und einige der anwesenden Raucher klopften mir auf die Schulter. »Gut hast Du das gemacht. Bald hast Du es hinter Dir. Wirst sehen, bald wird es Dir gutgehn.«
Ich ging auf mein Zimmer und rief Ina an. »Stell Dir vor, ich hab allen Mut zusammengenommen. Wahrscheinlich werde ich Freitag operiert. Aber Du weißt ja, ich habe eine wahnsinnige Angst!«
Ina freute sich. »Ich bin stolz auf Dich. Du brauchst keine Angst zu haben. Du merkst doch nichts davon. Glaub mir.«
Wir telefonierten noch einige Minuten, in denen sie versuchte mir Mut zu machen. »Morgen besuche ich Dich«, sagte sie zum Abschied.
Ich dachte an den Film »The Green Mile« mit Tom Hanks. An die Szene, in der ein zum Tode Verurteilter den Flur entlang geführt wurde. Hinter der Tür am Ende des Gangs war die Todeszelle mit dem elektrischen Stuhl. In meinen Gedanken verwandelte sich der Stuhl in einen OP-Tisch.
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