Kleine Kinder waren etwas Großartiges. Seit ich selbst Vater war, wurde mir das immer mehr bewusst. Sie waren so unschuldig und in ihnen steckte noch nichts Schlechtes. Der Mensch entwickelt erst schlechte Eigenschaften, wenn er älter wird. So war nunmal der Lauf des Lebens. Irgendwie war diese Entwicklung traurig, dachte ich bei mir - und winkte nochmals zu dem Kind mit seiner Mutter.
Jetzt konnte ich bereits das Haus, in dem mein Bruder wohnte, sehen. Sicher würden Mandy und Bastian sehr aufgeregt sein. Und auch meine Aufregung stieg!
Leise schlich ich mich Richtung Terrassentür. Durch die Scheibe sah ich, wie alle im Wohnzimmer saßen. Ina mit Marisa auf dem Arm, Bastian, Mutti, Axel, Anja und Mandy. Im Hintergrund liefen Weihnachtslieder und die Kerzen am Weihnachtsbaum leuchteten.
Ich nahm die goldene Handglocke, die einen höllischen Lärm machte, und brachte sie zum Läuten.
Irgendjemand sagte zu den Kindern: »Habt Ihr das gehört? Wenn das mal nicht der Weihnachtsmann ist!« Ich bimmelte nochmals und sah die großen, etwas erschrockenen Augen der Kinder. Axel hatte sich vom Sofa erhoben, war zur Terrassentür gegangen und öffnete sie.
»Bin ich hier richtig, bei Familie Gölnitz?«, fragte ich mit tiefer Stimme. Ich gefiel mir in diesem Moment und Axel antwortete: »Ja, frohe Weihnachten, lieber Weihnachtsmann!«
Bastian und Mandy, die noch vor Minuten laut durch das Wohnzimmer tollten, waren plötzlich mucksmäuschenstill. Ich hatte den Eindruck, als wenn sie am liebsten weggelaufen wären. Aber nun verharrten sie in einer Art Starre.
Ich trat schnaufend ein. »Ist das anstrengend diesen schweren Sack zu schleppen. Ich bin richtig außer Atem und draußen ist es bitterkalt!«
»Komm rein Weihnachtsmann, und wärm Dich auf«, grinste Axel.
Die Kinder standen immer noch wie angewurzelt da. Nur Marisa lag seelenruhig in Inas Arm und nuckelte auf ihrem Daumen. Aber auch sie blickte mich aus ihren großen Kulleraugen an.
»Wie heißt Ihr denn, Kinder?« Jetzt sprach ich die beiden Salzsäulen direkt an. Mandy nannte als Erste ihren Namen und drehte mit den Fingern nervös und ängstlich den Saum ihres Kleides.
»Und wer bist Du?«, sprach ich meinen kleinen Sohn an.
»Bastian«, kam die schüchterne Antwort. Seine Wangen glühten!
Auf meine Frage, ob sie denn auch immer artig gewesen wären, kam ein Einstimmiges: »JA!« Das war allerdings auch zu erwarten, denn ich glaube nicht, dass ein Kind auf diese Frage jemals mit NEIN antworten würde.
»Na, dann kann ich meine Rute ja beiseitelegen«, sagte ich, und fummelte das Notizbuch aus meinem Gürtel. Dann las ich einige Dinge vor, welche die Eigenarten der anwesenden Kinder beschrieben. Selbstverständlich nur die Guten!
Wie üblich sollten beide nun ein Gedicht vortragen, um anschließend in den Genuss der Geschenke zu kommen.
Mandy trug schüchtern ein erstaunlich langes plattdeutsches Gedicht vor. Und natürlich stand Anja ihrem aufgeregtem Töchterchen zur Seite.
Bastian hatte zwar gesagt, er würde lieber sein Gedicht zuhause vortragen. Aber als ich ihm klarmachte, dass er die Geschenke nur bekommen würde, wenn er hier und jetzt sein Gedicht vortrug, sagte auch er seinen kleinen Vers auf. Ich denke, dass beide sehr erleichtert waren, als sie diese Tortur hinter sich hatten.
Jetzt öffnete ich den Jutesack, entnahm ein Paket, und las den Namen desjenigen vor, für den es vorgesehen war. Natürlich waren dort auch Geschenke für die Erwachsenen dabei. Und bei jeder Überreichung gab ich dann noch einen Spruch zum Besten. Auch die Erwachsenen wurden gefragt, ob sie denn artig gewesen waren. Und Axel drohte ich sogar mit der Rute. Aber er versprach, sich im nächsten Jahr zu bessern.
Mittlerweile hatten sich Berge von Paketen vor den Kindern gestapelt, aber auszupacken trauten sie sich noch nicht. Und so holte ich zum Schluss die beiden letzten Päckchen hervor.
»Das hier ist für Bodo. Wo ist der eigentlich?«, fragte ich in die Runde.
»Das ist mein Papa«, meldete sich Bastian. »Der ist noch auf der Arbeit. Ich geb´ ihm das. Sie können mir das geben.«
Mir fiel vor Überraschung fast der Bart ab!
Da hatte dieser 4-jährige Knirps doch tatsächlich »SIE« zu mir gesagt. Noch nie zuvor hatte er zu einem Erwachsenen SIE gesagt. Ich sah erstaunt zu Ina. Auch Ina sah mich völlig verwundert an, aber lächelte stolz. Ich war also eine Respektsperson!!
Nachdem nun alles überstanden war, verabschiedete ich mich von den Kindern. »Frohe Weihnachten«, sagte ich und verließ das Wohnzimmer wieder über die Terrasse. Die Gesichter der Kinder glühten immer noch!
Zuhause schminkte ich mich ab, zog mich um und fuhr abermals zu Axels Wohnung.
Bastian stürmte mir an der Wohnungstür entgegen. »Papa, der Weihnachtsmann war da!« Er war immer noch aufgeregt. Freudestrahlend zeigte er mir seine Geschenke und gab mir die beiden Pakete, die der Weihnachtsmann für mich dagelassen hatte.
Ina und Anja servierten das Essen und wir verbrachten einen schönen Heiligabend miteinander, bevor ich mich mit Ina und den Kindern kurz vor Mitternacht auf den Weg nach Hause machte.
Den Weihnachtsmann sollte es auch die nächsten Jahre geben!
**********
Daheim drehte sich im Moment alles um unsere kleine Marisa. Und deswegen schlug Ina vor, dass ich mal etwas mit Bastian allein unternehmen sollte. Damit er seinen Papa mal ganz für sich hatte.
»Da fährt doch täglich ein Schiff von Kiel nach Göteborg in Schweden. Hättest Du nicht Lust mit Bastian eine kleine Seereise zu machen?«, hatte Ina mich gefragt. »Das kostet nicht viel - zwölf Stunden Hinfahrt - den Tag in Schweden verbringen und dann am Abend wieder zurück.«
Das war eine gute Idee und Bastian würde das bestimmt gefallen. Also besorgte ich die Tickets für Bastian und mich.
Zwischen Weihnachten und Sylvester sollte es losgehen.
Bastian war Feuer und Flamme. Er würde mit Papa auf einem riesigen Schiff über das große Meer fahren! Männer-Urlaub!
Und er durfte seinen kleinen Koffer ganz alleine packen. Natürlich war ich beim Packen zugegen, denn sonst wären dort nur Spielsachen und Stofftiere verstaut gewesen.
»Basti«, sagte ich, »auf dem Schiff gibt es sogar eine Disco. Dann ziehen wir uns hübsch an und gehen da am Abend hin. Also pack Deine Lieblingshose und Deinen Lieblingspullover ein!«
Natürlich wusste er, was eine Disco ist. Dort wird coole Musik gespielt, die Leute tanzen, und viele bunte Lampen leuchten. Das hatte er im Fernsehen gesehen. Und Bastian liebte Popmusik!
Das Passagierschiff sollte um 19 Uhr auslaufen und deshalb fuhren wir am späten Nachmittag mit dem Auto Richtung Kiel.
Bastian war enorm aufgeregt, als wir das Schiff über die Gangway bestiegen und wenig später unsere zugeteilte Kabine betraten.
Nachdem wir unsere Koffer abgestellt hatten, machten wir uns gleich auf den Weg, das Schiff zu erkunden.
Zuerst gingen wir in die Einkaufspassage, wo wir uns mit Dosen-Cola und Naschzeug eindeckten. Und anschließend auf das Restaurant-Deck. Durch die großen Glasscheiben wollten wir das Ablegemanöver unseres Schiffes mitverfolgen.
Читать дальше