Er klärte Ute darüber auf, dass sie nach der Geburt noch sechs Wochen Zeit zum Überlegen hatte, und dass er sich darum kümmern werde, dass sie den Säugling gar nicht zu sehen bekäme. Diese Versprechen sollten Ute wohl beruhigen. Sie bedankte sich zwar, aber beruhigt war sie keineswegs.
Drei Tage lang konnte sie nichts anderes tun, als weinen. Sie war nervlich, seelisch und moralisch am Ende. Fast den ganzen Tag telefonierte sie mit ihrer Freundin Annette, was aber immer von Weinkrämpfen unterbrochen wurde. Nichts vermochte sie zu beruhigen oder gar zu trösten.
Als man ihr am dritten Vormittag die Medikamente brachte, nahm Ute die Tabletten einfach nicht mehr. Sie warf sie in die Toilette. Sie wollte nicht länger warten und sich quälen, sondern die Geburt beschleunigen. Schon drei Stunden später setzten die Wehen ein und Ute wurde in den Kreißsaal gebracht. Sofort nach der kurzen Untersuchung setzte der Arzt ihr die Narkose-Maske aufs Gesicht. Danach wurde es dunkel.
Als Ute erwachte war sie in ihrem Zimmer und lag sie in ihrem Bett. Der Raum war abgedunkelt und das Telefon hatte man ausgestöpselt. Dass alles vorbei war, konnte sie fühlen. Aber genau das, die fühlbare Leere in ihrem Bauch löste einen Weinkrampf bei ihr aus.
Als sie sich gefangen hatte, stöpselte sie den Telefonkabel wieder ein, und rief direkt bei Annette an. „Es ist vorbei, Annette, und ich habe keine Ahnung ob es gesund ist, ich habe es nicht gesehen.“ Berichtete sie unter Tränen.
Annette versuchte die Freundin zu trösten, redete ihr gut zu, als Ute auf lauten Tumult vor ihrer Zimmertür aufmerksam wurde. Ute glaubte Vitos Stimme zu hören, aber dann war es auch schon vorbei. Es wurde ein langes Gespräch mit der Freundin, dem noch eins mit ihrer Tochter folgte, sodass sie ein paar Stunden beschäftigt war.
Kaum hatte sie nach Ende ihrer Telefonate den Hörer aufgelegt, als das Gerät wieder läutete. Es war Vito, er schrie laut, beschimpfte sie, sie sei eine Rabenmutter, dann werde er seine Tochter zu sich nehmen, das habe er schon mit seiner Frau geklärt. Sie wären eben in der Kinderklinik gewesen und hätten die Kleine besucht. Ute war darüber sehr empört, kappte die Leitung und hatte einen Nerven-Zusammenbruch.
Die wachsame Oberschwester Barbara war schnell zur Stelle und gab Ute ein Beruhigungsmittel. Dann besorgte sie für Ute eine andere Telefonnummer bei der Zentrale des Krankenhauses und sorgte auch dafür, dass keine Gespräche zu ihr vermittelt wurden. So hatte sie für Utes Ruhe gesorgt und Ute konnte nur noch selbst raus telefonieren. Die Stations-Schwester war wie ein Schutzengel ganz besonderer Art für Ute.
Aber ihren Seelenfrieden fand sie trotzdem nicht. Immer wieder überfiel sie das heulende Elend, konnte sie den Gedanken nicht verscheuchen, dass sie ihr eigen Fleisch und Blut verschenken wollte. Sie hatte Schwierigkeiten das mit ihrem Gewissen zu vereinbaren.
Dabei überlegte sie, dass sie dem Säugling damit sicher etwas Gutes tun würde, weil es bei ihr in eine unsichere Zukunft gekommen wäre. Als uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter sähen die Zukunftschancen des Kindes nicht gerade rosig aus. Vielleicht fände es bei gutsituierten Leuten eine bessere Zukunft und ein behütetes liebevolles Zuhause?
Gleich darauf fiel ihr ein, wer oder was gäbe ihr denn die Garantie, dass dieses Zuhause immer so sicher und gut behütet bliebe? Was wäre, wenn diese Adoptiveltern sich irgendwann scheiden lassen würden? Was passierte dann mit dem adoptierten Kind? Wäre es dann ebenfalls bei einem alleinerziehenden Elternteil? Und was, wenn keiner von beiden Eheleuten das Kind haben wollte?
Ute zermarterte sich das Gehirn mit dem Abwägen der Möglichkeiten. Es machte sie fertig. Auch Annette wusste darauf keine Antwort.
Am Montagvormittag rief sie als erstes den Sachbearbeiter des Jugendamtes an und berichtete von Vitos Besuch bei dem Säugling. Der Beamte war empört, versprach sofort in der Kinderklinik angerufen, und sich bei der Stationsschwester zu beschweren. Er werde dafür sorgen, dass so ein Fehler nicht noch einmal passieren werde.
Damit hatte sie zwar dem Erzeuger einen Riegel vorgeschoben, aber Utes Gewissen beruhigte auch das nicht. Sie quälte sich noch den ganzen Tag mit trüben Gedanken, bis sie endlich einschlief.
Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie gerädert, wüste Träume hatten ihren Schlaf unruhig gemacht. Dann kam ihr ein Gedanke, den sie sofort in die Tat umsetzte. Sie rief ihre Mutter an, und bat um deren Besuch.
Obwohl Ute ihrer Mutter ansehen konnte, dass sie sich sehr unwohl fühlte, saß ihre Mutter dann, zwei Stunden später, an Utes Bett. Zwar erkundigte sie sich höflich nach Utes Befinden, aber es war ihr anzusehen, dass sie etwas Unangenehmes befürchtete.
Ihre Direktheit verdankte Ute dem Gen ihrer Mutter, deshalb fragte sie ohne Umschweife: „Sag mir bitte, Mutti, wie verkraftet es eine Mutter ihr Kind zu verschenken?“
Statt einer Antwort, weinte ihre Mutter. Sie brachte kein Wort heraus, nur ihr gequälter Blick sprach Bände.
Es war das erste Mal in Utes Leben, dass sie ihre Mutter, diese harte, starke Frau, weinen sah. Selbst als ihre eigene Mutter gestorben war, hatte sie keine Träne vergossen. Aber nun, nach mehr als vierzig Jahren, weinte ihre Mutter, bei dem Gedanken an ihren verlorenen Sohn, den sie zur Adoption freigegeben hatte.
„Entschuldige bitte, Mutti, sie wollte dir nicht weh tun. Schon gut, du musst mir nichts erklären, das war mir Antwort genug!“ sagte Ute während ihr die dicken Tränen übers Gesicht liefen.
Schnell erhob sich Utes Mutter, und stürzte wortlos hinaus.
Hoffnung auf Weihnachtskind
Entschlossen wusch Ute sich das Gesicht, zog sich an, und ging zum Schwesternzimmer. Sie bat Schwester Barbara die Klinik verlassen zu dürfen, bat um einen Urlaubsschein. Auf ihre Frage was sie vorhabe, erwiderte Ute: „Sie möchte zur Kinderklinik meine Tochter besuchen.“
Die Schwester umarmte sie spontan und sagte mit bewegter Stimme: „Gott sei Dank. Sich habe es gewusst. Ich hätte niemals glauben können, dass Sie ihr Kind abgeben. Ja, gehen Sie nur, Gott sei mit Ihnen!“
Auch Ramona war überrascht, als sie sie anrief. Aber als sie erfuhr was sie vorhatte, sagte sie: „Ich komme sofort.“
Es wunderte Ute nicht, dass auch Rene im Auto saß, als Ramona vorfuhr. Schweigend fuhren sie zu der entfernten städtischen Klinik, in der sich die Kinderklinik befand. Die Neugeborenen- Station der Klinik hatte eine Isolier-Abteilung in der nur die Frühgeburten lagen. Einige in Brutkästen, andere in Wärmebettchen, je nach Bedarf.
Vermutlich hatte Schwester Barbara ihre Kollegin telefonisch verständigt, denn die Besucher wurden gleich am Eingang dieses separaten Raums empfangen und darüber informiert, dass der Zutritt nur Ute gestattet sei. Ihre beiden Kinder konnten lediglich durch ein großes Fenster sehen, wie die Schwester Ute zeigte, wo ihr Baby lag.
„Julia“ stand auf dem kleinen Namensschild des Brutkastens, in dem ein mageres kleines Geschöpf halbnackt lag. Es war das Kind mit der dunkelsten Hautfarbe in dieser Abteilung, hatte einen fast schwarzen Cäsarkranz und lag ganz ruhig mit geschlossenen Augen in dem beleuchteten Kasten. An beiden Seiten dieses monströsen Gerätes waren runde Öffnungen, die mit Gummilaschen abgedichtet waren, durch die man hineingreifen konnte.
Ute stand wie erstarrt vor dem Gerät, schaute auf das winzige Geschöpf und schämte sich innerlich, dass sie so wenig Rücksicht auf das Geschöpf in ihrem Bauch genommen hatte. Ihr wurde klar, dass es ihre alleinige Schuld war, dass dieses Wesen so untergewichtig und klein war. Dicke Tränen der Reue rollten über Utes Wangen und sie nahm sich vor, ein Leben lang gut auf dieses Kind aufzupassen, und zu versuchen, ihre Versäumnisse wieder gut zu machen.
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