„Ja, da sehen Sie doch, Frau Fiori, wie Sie sich selbst widersprechen“, erwiderte das junge Ding, wie Mutti das Mädel abfällig nannte, „Sie sagen selbst, dass er Zahnarzt war in einem von Deutschen bewohnten Wohnviertel. Da hat er doch schon deshalb nichts zu suchen, weil er schließlich einem deutschen Zahnarzt möglicherweise oder sogar ganz bestimmt den Arbeitsplatz weggenommen hat. Und dass er so beliebt war, hatte er doch wohl nur seinem schleimigen Wesen zu verdanken. Die Juden haben nur eines im Sinn, den Deutschen das Geld aus der Geldbörse zu locken, um am Ende die Herrschaft zu übernehmen. Natürlich schicken sie da auch Akademiker ins Land. Was sagen Sie denn dazu?“
Tante Traute war da und unterbrach das Gespräch abrupt: „Hör mal, Gretel, ich wollte dir noch etwas ganz Wichtiges, Privates sagen. Kommst du mal bitte mit nach draußen, ich muss jetzt gehen!“ Mutti ging natürlich mit und musste sich folgende Gardinenpredigt anhören:
„Gretel, du redest dich um Kopf und Kragen. Hast du den Verstand verloren? Du kannst doch nicht irgendeinen jüdischen Menschen vor diesem Mädchen verteidigen. Die bringt dich hinter Schloss und Riegel! Sag bloß nichts mehr! Gib ihr einfach Recht oder schweig, wenn es dir zu schwer fällt!“
„Was soll denn daran schlimm sein, wenn ich einen Menschen verteidige, den ich sehr gut kannte, der darüber hinaus wirklich unheimlich nett war und von dem nie jemand ein Wort darüber vernommen hatte, dass er Jude wäre oder anders dachte?!“
„Ach, Gretel, bei dir ist auch Hopfen und Malz verloren, sei in deinem ureigensten Interesse bitte, bitte ruhig, wenn es um politische Themen geht oder um Juden. Das ist heutzutage wirklich äußerst gefährlich da eine Meinung zu vertreten, die von der Meinung des Führers abweicht! Bitte glaube mir!“
„Na, ja, wenn du wirklich meinst. Ist ja vielleicht jetzt in Kriegszeiten auch ein wenig anders als sonst. Ich kann das gar nicht glauben, dass der Führer es mit irgendjemandem hier in Deutschland schlecht meinen könnte. Er hat doch bisher so viel Gutes bewirkt.“ „Ja, das ist eine Meinung, die du freilich immer wieder aussprechen darfst, aber widersprich deinem Pflichtjahrmädel nicht!“ ermahnte Tante Traute noch einmal sehr eindringlich.
Mutti resignierte: „Ja, wenn du meinst, obwohl es mir ganz gehörig gegen den Strich geht, ausgerechnet dieser dummen, kaltschnäuzigen Pute nicht meine Meinung sagen zu dürfen!“
Deshalb war Mutti gar nicht böse darüber, als Oma und Tante Erna sie und die Kinder einluden, die Osterferien in Bad Godesberg zu verbringen. Dort konnte man so herrlich Spaziergänge am Rhein entlang unternehmen, konnte in Omas großem Garten sitzen, über den Rhein mit der Fähre zum Drachenfels fahren, jedenfalls in aller Ruhe die Ferien genießen und musste nicht dauernd von einer übereifrigen, jungen und dummen Parteigängerin im eigenen Haus daran erinnert werden, dass der Nationalsozialismus Hass predigte.
So, wie Mutti es erreicht hatte, dass ihr ein Mädel zugesprochen wurde, so schaffte sie es auch ohne Probleme und lange Wartezeiten, diesen Quälgeist wieder loszuwerden,
Sie erklärte vor dem zuständigen Amt, dass sie aus gesundheitlichen Gründen und wegen der Entwicklung des Kleinen sehr häufig verreisen müsste und deshalb so selten zu Hause sei, dass sie ganz bestimmt dieses Mädel weder betreuen könne noch deren Hilfe wirklich in Anspruch nehmen.
Nun war sie zwar eine tüchtige und kräftige Haushaltshilfe los, aber sie war glücklich darüber. Sie hatte aber auch keine Hemmungen, die Hilfe von Freundinnen und Nachbarinnen in Anspruch zu nehmen, wenn ihr bestimmte Arbeiten im Haushalt entschieden zu schwer waren.
Ganz besonders aber half ihr eine gute Bekannte und Nachbarin, mit der sie sich schon zur Zeit der Geburt meiner Schwester angefreundet hatte. Das war eine kleine, gutmütige und resolute etwas ältere Dame, die von Mutti wegen ihrer auffälligen Korpulenz nur Dickerchen genannt wurde, obwohl sich die beiden Frauen niemals duzten. Dickerchen war eine ganz wahre Parteigängerin und dem Führer und seiner Partei äußerst treu ergeben. Auch hatte sie einen unversöhnlichen Hass auf Juden entwickelt. Eigentümlicherweise mochte Mutti aber diese Frau besonders und sprach deshalb niemals mit ihr über Politik und ihre Meinung dazu. Ganz anders als bei dem „jungen Ding“ verzieh Mutti dieser Freundin sofort alles, auch wenn ihr manche Äußerung gegenüber Juden oder Ausländern enorm gegen den Strich gingen.
Dickerchen packte auch tatkräftig zu im Haushalt, wuchtete schwere Möbel, wenn es erforderlich war, putzte auch schon mal den Flur, wenn Mutti sich gesundheitlich dazu nicht in der Lage fühlte. Dickerchen konnte auch anstreichen, und da sie selbst einen Sohn hatte, der schon viel älter war als meine Schwester, konnte sie auch im Hinblick auf die Versorgung des kleinen Jungen eine wertvolle Hilfe sein. Sie gab auch keine dummen Ratschläge im Hinblick auf die Entwicklung des Knaben sondern fand diese ganz normal.
Und genau das empfand Mutti natürlich als wohltuend nach den erstaunlich vielen Ermahnungen seitens der besten Freundin Traute.
Natürlich bemühte Mutti sich nach Kräften, die Hilfe und Freundlichkeiten vom „Dickerchen“ wieder gutzumachen. Dazu lud sie sehr häufig zum Kaffe ein, buk dann einen Tortenboden, der meistens mit Sauerkirschen belegt wurde, oder einen festen Kuchen. Oft gab es auch einen selbstgebackenen Hefestuten, den sie besonders gerne und auch gut backen konnte. Ganz sicher aber wurde nach dem Kaffee ein Likörchen oder ein Schnäpschen gereicht.
Nach Muttis Meinung gehörte das einfach zum guten Ton. Mutti kredenzte grundsätzlich diese alkoholischen Gaben in der Verniedlichungsform, die ihr sowieso die liebste war, wenn sie mit jemanden sprach, den sie gut leiden konnte. Deshalb wurde auch niemals ein Schnaps oder ein Cognac angeboten, auch kein Wacholder oder Likör, hin und wieder ein Magenbitter, aber immer war es ein Schnäpschen, ein Cognäcchen, ein Wacholderchen, Likörchen oder Magenbitterchen, von denen sie selbst ein bis drei Fußbädchen trank.
So gerne Mutti Besuch zuhause empfing, so gerne machte sie auch Besuche. So war es kein Wunder, dass sie in wenigen Jahren einen sehr großen Bekanntenkreis auf der Margarethenhöhe in Essen hatte. Mit allen Damen verband sie eine herzhafte Freundschaft.
Fast immer wurde ich mitgenommen und vorgezeigt. Schon früh lernte ich, alle lieben Tanten mit Küsschen zu begrüßen, ob Tante Mimi, Tante Hanni, Tante Addi oder Tante Agnes und Tante Erna, denn genau dieses Verhalten war meiner Mutti so wichtig, dass sie es ständig von mir verlangt hatte.
Das war mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich schon automatisch die Ärmchen ausstreckte, wenn wieder einmal weiblicher Besuch kam oder sich in fremder Wohnung über den Kinderwagen beugte. Die lieben Tanten schmolzen dahin ob so viel Freundlichkeit und Herzigkeit des kleinen Buben. Dabei war mir diese ewige Küsserei wildfremder Personen keineswegs eine Herzensangelegenheit.
Wer mich genauer beobachtet hätte danach, hätte deutlich sehen können, wie ich heftig über mein Gesicht und über meinen Mund wischte nach jeder dieser Begrüßungszeremonien. Ganz besonders heftig aber wischte ich, wenn eine dieser lieben Tanten mir einen feuchten Kuss auf eine Wange oder auf meine „süßen Patschepfötchen“ oder sonst wohin gedrückt hatte.
Schon in diesem sehr frühen Stadium meines Heranwachsens entwickelte ich eine besonders starke Aversion gegen Spucke, gegen feuchte Flecken oder feuchte Lappen jedweder Herkunft in meinem Gesicht oder irgendwo an meinem Körper. Wasserscheu war ich nur dann nicht, wenn es in eine warme Badewanne ging.
Ansonsten hasste ich Körperschweiß, feuchtes Abwischen meiner Hände oder überhaupt feuchtes, oder halbtrockenes Wischen mit einem Lappen, um irgend ein Teilchen Schmutz oder Speiserest von meinem Körper zu entfernen.
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