Ich sehe noch das Blaulicht, wie es unten am Dorfplatz verschwindet. Anni geht mit mir zurück und bringt mich ins Bett. Eine Weile bleibt sie neben mir sitzen, dann schleicht sie sich hinaus. Ich glaub‘, sie hat geweint. Aber sicher bin ich mir nicht.
Mir fallen die Augen zu.
Als ich in der Früh aufwache, steht der Vater neben meinem Bett. Mit Anni essen wir gemeinsam in der Küche. Das war noch nie da. So richtig sprechen tun beide nicht. Ich frage auch gar nicht, was war und warte einfach, was kommt.
Dann sagt mein Vater, dass die Mutter im Spital ist und wir sie jetzt besuchen fahren. Ihr geht es wieder besser.
Das macht mich richtig fröhlich.
So schnell habe ich mir die Lederhose noch nie angezogen. Die muss ich auch gleich wieder ausziehen, sagt Anni. ... Da, die lange Hose ist besser ... und gibt mir die kratzige graue.
Im Auto stehe ich wie immer hinten und lehne mich an die vordere Sitzbank. Ich bin ganz nah am Ohr meines Vaters und spüre sogar seine Haare dann und wann an meiner Nase kitzeln.
Er hat die Hände am Steuer.
Die lederne Visitentasche liegt neben ihm, am Mittelsitz, wie immer, wenn er seine Patienten besucht. Allzu viel reden wir nicht am Weg ins Spital, aber das mag ich diesmal.
Ich fühle mich gut und geborgen. Die Sonne scheint und sein Vorderfenster ist halb offen.
Im Spital laufen wir durch lange Gänge, bis wir zu einer Tür kommen, die die Nummer Sechs trägt. Leise öffnet mein Vater die Tür und wir treten ein. Da finden wir meine Mutter im Bett. Alles ist weiß, die Wände, die Tür, das Bett. Ihr schwarzes Haar ist wieder glatt und geordnet, sie ist wach und blickt uns an. Das Bett ist ziemlich hoch, sodass ich mich auf die Zehen stellen muss, um sie zu sehen.
Sie sucht meine Hand und drückt sie.
Jetzt ist alles wieder gut, denke ich mir. Mein Vater steht am Fußende. Niemand sagt etwas. Beide weinen ein bisschen. Ich schau‘ inzwischen aus dem Fenster.
Ich möchte schnell wieder weg, mit meinem Vater. Aber nur, wenn er nicht flennt. Ich glaube, dass er das gemerkt hat, denn nach ein paar Worten gehen wir wieder. Beim Rausgehen sehe ich Blumen am Nachtkästchen. Sie erinnern mich an unseren Garten.
Dort will unbedingt hin.
Jetzt, sofort.
Die Eltern (Weihnachten 1955)
Heut‘ kommt eure neue Mutter, sagt Tante Resi.
Ich bin gern bei Tante Resi in Wels. Mausi auch, glaube ich. Vor der Hausfront fahren ständig Autos vorbei. Man hört sie aber nur ganz leise durchs Fenster, das zur Straße geht. Da stehe ich manchmal, hinterm Vorhang, und schau‘ hinunter.
Ich kenne fast alle Automarken.
Kaum taucht ein Auto auf, ruf‘ ich ... Volkswagen! oder ... Opel! oder ... Mercedes!. Beim Mercedes mach‘ ich es sogar genauer. Mercedes 180, Mercedes 180 D oder Mercedes 220 . Auto-Erraten machen mein Vater und ich oft, wenn wir unterwegs sind. Die Mercedes kenne ich deshalb so gut, weil wir auch einen haben, einen 180er . Leider keinen 190er . Aber dafür ist unserer blau-métallisée .
Warum ich in Wels gern bin, das weiß ich nicht so genau.
Jedenfalls ist das Essen viel besser als daheim. Und ich muss nicht aufessen, wenn ich nicht mag. Außerdem sitzt meist noch meine Cousine Maria mit uns beim Essen und macht Witze. Ihre Lippen sind blau und sie atmet schwer. Ich muss immer ihre Finger betrachten, wenn sie die Hände manchmal auf den Tisch legt. Die sind vorn so breit wie Kochlöffel und meist auch blau.
Dann gibt es da noch den Onkel Adolf. Der kann kaum gehen. Ein Auge zwickt er immer zu und der Mund hängt auf einer Seite ein bisschen runter. Da rinnt dann manchmal die Suppe raus. Aber Maria macht das schnell weg mit der Serviette. Onkel Adolf redet nicht viel. Eigentlich redet er gar nicht. Aber er sitzt immer am Tisch, wenn wir essen.
Wenn ich satt bin, darf ich mich aufs Sofa neben dem Esstisch legen. Ich liege da auf einem Perser , den Tante Resi direkt aus Persien mitgebracht hat. Geschmuggelt hat sie ihn, im Auto. Sie hat sich einfach am Rücksitz auf ihn draufgesetzt und ist so bis Wels gefahren. Ohne Probleme, sagt sie. Das erzählt sie oft, wenn alle am Tisch sitzen. Dann gibt es ein ziemliches Gegröle, das erst aufhört, wenn Maria zu wenig Luft bekommt und blau wird.
Maria hat nämlich ein Loch im Herz, deshalb wird sie manchmal blau. Besonders wenn sie lacht oder sich aufregt.
Einmal, erzählt sie uns, wäre sie fast gestorben. Da war sie im Spital, wegen der Luftnot. Dort ist ihr Herz bei irgend so einer Untersuchung plötzlich stehen geblieben und sie hat gehört, wie der Doktor zur Schwester sagt, ... jetzt ist‘s zu Ende . Da hat sie die Augen aufgerissen und laut geschrien – NEIN! Da haben die aber geschaut und schnell weitergemacht, bis das Herz wieder angesprungen ist.
Bei dieser Geschichte lächelt sogar Onkel Adolf. Das merkt man daran, dass er dann ein bisschen mit dem Kopf wackelt. Nur ganz leicht, man muss genau hinschauen.
Ich habe in Wels noch zwei Onkel, die immer wieder einmal beim Mittagessen dabei sind.
Onkel Hans ist so alt wie Onkel Adolf und redet auch wenig. Wenn er aber was sagt, dann ist es richtig laut. Außerdem hat er riesige Pranken, und der Tisch wackelt, wenn er sein Schnitzel zerschneidet.
Mausi und ich haben immer etwas Angst vor ihm gehabt, bis vor kurzem. Da hat uns nämlich die Maria vor ein paar Tagen eigens nachts aus dem Bett geholt, um den Onkel Hans beim Schnarchen zuzusehen.
Das war echt ein Abenteuer!
Im Pyjama sind Mausi und ich hinter Maria durch den langen Hausgang getrippelt, immer dem Schnarchen nach. Am Schluss sind wir vor dem Bett vom Onkel Hans gestanden. Der hat so laut geschnarcht, dass sogar das Wasserglas mit seinem Gebiss am Nachtkästchen gewackelt hat. Ein Steyrer Traktor ist nichts dagegen!
Als er sich dann plötzlich umgedreht hat im Bett und keinen Ton mehr von sich gegeben hat, haben wir es mit der Angst gekriegt und sind schnell zurückgestürmt in unsere Betten. Dort haben wir noch lange unter der Bettdecke gekichert.
Dann ist da noch der Onkel Franz, der Franzl. Der ist Messedirektor und der einzige Sozi in der Familie. Ich hab mir das gemerkt, weil mein Vater immer wieder Witze darüber macht. Mein Vater sagt, er ist ein Edelsozi . Dabei lacht er. Ich hab ihn einmal gefragt, was ein Edelsozi ist. ... Einer, der andere bestiehlt, ohne dass die es merken, hat er gesagt.
Das hätte ich nie gedacht – Onkel Franz, ein Taschendieb! Da muss man ja viele Tricks draufhaben, das weiß ich aus Erzählungen. Vielleicht kann er mir ein paar davon lernen, jetzt, wo wir ohnehin Sommerferien haben.
Im Hinterhof sind mehrere Garagen und dahinter ein großer Garten. Dort gibt es Ribisln und Stachelbeeren. In der Mitte steht ein schwarzer riesiger Wasserkessel, der immer randvoll ist. Wenn ich mich auf einen Ziegel stelle, dann kann ich tief unten die Kaulquappen sehen. Kaulquappen kann man ziemlich leicht in der Hand zerquetschen, wenn man nicht aufpasst. Wasserläufer hingegen sind kaum totzukriegen. Die kann man fangen, herumtragen und wieder aufs Wasser setzen. Dann laufen sie wieder.
Heute kommt also unsere neue Mutter.
Wir sind schon gespannt, wie die aussieht. Seit Tagen geht es nur mehr darum. Bei jedem Essen wird darüber gesprochen. Mir soll’s recht sein, mein‘ ich. Solang unser Vater bei uns ist, ist mir das egal. Tante Resi meint, dass wir uns darüber freuen werden. Sie meint, wir brauchen eine Mutter. Eine haben wir ja! Aber die ist jetzt weg. Solange Anni bei uns ist, find‘ ich das nicht wirklich notwendig. Vielleicht will das unser Vater einfach, damit er nicht allein ist.
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