Aber das war im Winter – jetzt steht der Sommer vor der Tür!
Ich esse meist in der Küche mit Anni.
Am Samstag gibt es normalerweise das Mittagessen im Esszimmer. Anni bringt dann das Essen rein, meist irgendwas Rötliches in einer Schüssel, Kartoffeln extra. Vor so einem Essen sitze ich dann ziemlich lang, weil ich es nicht mag. Irgendwann ist der Teller doch halbwegs leer, oder Anni verliert die Geduld und trägt ab. Meine beiden Eltern sind da meist schon vorher verschwunden. Das ist mir ganz angenehm, weil sie in letzter Zeit recht stumm nebeneinander saßen und außer dem Klappern der Teller wenig Unterhaltung war.
Heute ist irgendwie ein besonderer Tag.
Begonnen hat es schon damit, als mein Vater stumm und mit ernster Miene aus seinem Fenster in den Schulgarten geblickt hat.
Meine Mutter habe ich noch gar nicht zu Gesicht bekommen, auch beim Essen nicht. Das war in letzter Zeit häufig so, macht mir aber nichts aus. Ich esse ohnehin lieber in der Küche mit Anni. Sie redet gern und laut. Meistens schimpft sie über etwas, übers Wetter, über den Schmutz, den die Patienten reintragen oder die Wäscheberge, die sie bügeln muss. Dabei rennt sie in der Küche hin und her, fuchtelt mit den Armen und zwickt mich dann und wann im Vorbeigehen. Aufessen muss ich nicht, kriege da höchstens einen Klaps auf den Hinterkopf und kann mich dann schnell verdünnen.
Warum heute ein besonderer Tag ist?
Weil Anni mir heute keinen Klaps verpasst hat, obwohl ich wieder einmal das Würstelgulasch nicht aufgegessen habe. Mehr noch: Sie hat mir sogar meine kurze Lederhose bereitgelegt und das Ringelhemd. Sie meint, es ist warm genug und ich darf gleich raus auf die Straße. Normalerweise muss ich den Umweg über den Garten machen, muss mich dort eine zeitlang aufhalten, bis ich ins Dorf entkommen kann. Diesmal aber sagt Anni, ... kannst schon verschwinden ins Dorf, aber abends um sechs bist wieder hier, verstanden!
Sie sagt das irgendwie langsamer und eindringlicher als gewohnt und sieht mich dabei an – komisch.
Egal, Hauptsache, ich kann raus!
Unser Dorf besteht aus vielleicht zehn Häusern, die entlang der Dorfstraße aufgereiht sind. Unser Haus liegt zwischen dem Postamt und der Schule. Weiter unten ist dann der Kirchplatz. Eigentlich ist es nur die Straße, die dann etwas weiter wird, und der Dorfteich mit dem angrenzenden Pfarrhof und der Kirche. Der Kirchmauer direkt gegenüber ist das Kaufhaus, schräg gegenüber rechts das Wirtshaus.
Meistens habe ich einen Fußball dabei.
Ist kein Spielkamerad in Sicht, dann spiele ich gegen die Friedhofsmauer. Das wird nicht so gern gesehen, weil der Mauerputz schon ziemlich abgebröckelt ist. Heute mach‘ ich es trotzdem, denn durch die Knallerei kann meine Spielkumpel herauslocken – und heute hätt‘ ich gern Unterhaltung.
Dann wird der Tag noch besonderer.
Anni taucht plötzlich am späten Nachmittag am Dorfplatz auf – allein das ist ungewöhnlich - und scheucht mich heim. Sie nimmt mich fest bei der Hand und zieht mich fort. Ich müsse nach dem Abendessen rasch ins Bett, weil wichtiger Besuch käme für meine Eltern und ich bis dahin schon schlafen sollte. Rebellieren nützt bei Anni nichts. Am besten, man fügt sich. Außerdem bin ich heute eh nicht gut drauf – und Anni hat warme Hände.
Daheim gibt es Milchreis und Zwetschgenkompott, mit Zimt und Zucker – das mag ich. Seit meine Schwester im Internat in Gmunden ist, muss ich nicht teilen, das finde ich recht praktisch. Zwar gilt das auch fürs Würstelgulasch, aber bei Milchreis hau‘ ich richtig rein.
Während ich den Reis mit einem großen Löffel in mich reinstopfe, rennt mein Vater ein paarmal durch die Küche, mit fliegender Krawatte. Ich geh‘ etwas in Deckung und verschanze mich hinter dem Reisberg.
Meine Mutter riech‘ ich nur.
Manchmal steckt sie ihre Nase in die kaum geöffnete Tür und gibt Anni ein paar Aufträge. Die stellt dann klirrend Flaschen in den Kühlschrank oder spült die Aschenbecher im Waschbecken aus.
Ich verdrücke einen ziemlichen Berg Reis und verziehe mich dann in mein Zimmer.
Mein Zimmer teile ich rein theoretisch mit meiner Schwester. Die ist aber in Gmunden im Konvikt und nur selten hier. So habe ich das ganze Zimmer für mich. Ich mag es gern. Es hat einen blauen Kachelofen, der jetzt natürlich kalt ist und einen glatten Boden, auf dem meine Match-Box-Autos super rollen.
Mein Zimmer liegt zwischen dem Schlafzimmer meiner Eltern und dem Vorzimmer. Dahinter folgen die anderen Zimmer, Esszimmer, Wohnzimmer und Küche. Jedes Zimmer hat eine Waschgelegenheit, das ist sehr praktisch. Bad haben wir keines. Aber wir haben eine Waschküche im Garten. Das ist ein kleines Häuschen, mit einem Steinbecken. Dort bade ich einmal pro Woche. Da kommen auch die Haare dran zum Waschen. Anni reibt mich dann von oben bis unten ab und kippt mir kübelweise das Wasser über den Kopf. Ich protestiere da höchstens erst, wenn mir Seife in die Augen kommt. Da gibt es dann einen kräftigen Klaps aufs Hinterteil, und das Augenbrennen ist schon vergessen.
Samstag ist eigentlich Badetag. Aber heute scheint alles anders zu sein.
Ich bin schon gegen sieben Uhr abends in meinem Zimmer. Es ist noch hell und ich höre die Amseln pfeifen. Anni hat mir schon das Bett gemacht, die Vorhänge zugezogen und wartet, bis ich im Bett liege. Sie zieht mir die Bettdecke fast über die Augen, löscht das Licht und geht leise aus dem Zimmer. Ungewöhnlich leise, zumindest für Anni.
Im Schlafzimmer meiner Eltern nebenan ist Licht. Das sehe ich unten am hellen Türspalt.
Die Mutter ist noch drin, das höre ich. Manchmal knarrt die Tür von ihrem Kleiderschrank, dann spricht sie irgendwas vor sich hin oder sprüht sich mit Parfum ein. Das hört man – pft-pft – ich kann es sogar durch den Türspalt riechen.
Mein Vater ist wahrscheinlich im Wohnzimmer, dem Zimmer auf der anderen Seite der Wohnung, hinter dem Vor- und dem Esszimmer. Ich vermute das, denn das Stühlerücken, Vorhängeschließen und das Parkettbodenknarren kenne ich.
Das macht er immer, wenn Gäste kommen.
Mausi & ich (1955)
Und von denen hat es in der Vergangenheit viele gegeben. Normalerweise werde ich dann nicht einfach ins Bett gesteckt wie heute, sondern darf nach der Begrüßung einmal kurz auftreten . Wenn meine Schwester Mausi da ist, was in letzter Zeit selten war, dann treten wir gemeinsam auf. Ich zeige den Kopfstand und Mausi macht die Brücke. Dann dürfen wir abtreten.
Diesmal ist es anders.
Mausi ist im Internat und ich lieg‘ bereits im Bett. So richtig einschlafen kann ich nicht. Es knistert irgendwie im Haus, fast wie Weihnachten, nur mit Amselpfeifen.
Allein in meinem Zimmer zu sein, das bin ich gewöhnt. Aber um acht Uhr abends im Bett, das ist mir fremd. Zwar hab‘ ich keine Angst wie sonst, wenn ich ganz allein im Haus bin und meine Eltern irgendwo bei Freunden eingeladen sind. Anni ist dann auch häufig weg, weil sie mit ihrem Freund, einem Lastwagenfahrer, entschlüpft. Das darf sie eigentlich gar nicht, das haben ihr meine Eltern verboten. Sie tut es aber trotzdem und ich habe ihr das Ehrenwort gegeben, sie nicht zu verpfeifen.
An solchen Abenden überkommt mich häufig die Angst.
Ich hol‘ mir dann meinen blechernen Spielzeugpanzer mit den Gummiraupen ins Bett und lass‘ ihn über das Kopfkissen fahren. Ich kann ihn nur fühlen, das kalte Blech, und hör‘ sein Geratter. Er ist mit einem Schlüssel zum Aufziehen. Sehen kann ich ihn nicht, nur ein bisschen, wenn der Mond durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hereinscheint.
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