Bradford war hier?! Neugierig folgte Pearlenes Blick dem der älteren Dame, doch sie konnte lediglich die verschwommenen Umrisse mehrerer Personen auf der gegenüberliegenden Seite des Zeltes erkennen. Sofort begann sie, in ihrem Retikül nach der Schatulle ihrer Stielbrille zu suchen, welche sie vor dem Tanzen darin verstaut hatte. Reeva drückte derweil ihren Ellbogen und flüsterte ihr ins Ohr: »Sieh doch! Da ist der Bruder des Grand Duke. Hach, ich würde alles darum geben, wenn Bradford mich nur um einen Tanz bitten würde.«
Kaum hatte Pearlene das gute Stück gefunden, hielt sie es sich vor die Augen. Herr im Himmel, er sah wirklich auf den ersten Blick wie sein Bruder, Grand Duke Arden, aus. Die Statur, die Haarfarbe, selbst die Augen leuchteten in dem gleichen Blau. Lediglich die Kleidung und seine Frisur unterschieden sich von Ardens. Bradford entsprach dem typischen Bild eines Dandys. Auf dem neusten Stand der Mode gekleidet, in einem hellem Brokat-Rock und einer Damast-Kniehose, wirkte er durch und durch elegant und gepflegt. Er trug zwar ebenso den üblichen Herrenzopf, aber im Gegensatz zu seinem Bruder waren seine Haare nicht streng zurückgekämmt, sondern in legerer Weise zusammen gefasst. Die unordentlichen Wellen verliehen seinem Auftreten eine Spur von Verwegenheit, was ihn umso faszinierender machte.
Eine Gruppe von jungen Herren begleitete ihn, sie schienen alle seinem Alter und Charakter zu entsprechen. Man hörte sie miteinander laut lachen und schwatzen. Es war nicht zu übersehen, dass die Riege der Schwerenöter es genoss, im Mittelpunkt des Balles zu stehen. Jeder der Anwesenden beobachtete sie, auf die eine oder andere Weise. Die älteren Lords taten dies mit Kopfschütteln, deren Ehefrauen mit pikiertem Entsetzen und der Nachwuchs mit unverhohlener Bewunderung. Während die unerfahrenen Jünglinge so sein wollten wie sie, hofften die unschuldigen Jungfern, von ihnen beachtet oder gar erwählt zu werden.
Pearlene war mehr als eingeschüchtert von der offensichtlichen Arroganz, die Bradford und seine Freunde zur Schau stellten, und der Wirkung, die von ihnen auf die Menge ausging. Es war, als würde ein Stein auf eine ruhige Wasseroberfläche treffen und fortwährend kreisrunde Wellen schlagen, die immer größer wurden.
Reeva fächerte sich wild Kühlung zu. »Mutter sagte, dass jeder von ihnen der denkbar schlechteste Umgang für eine junge Lady sei, die ihr untadeliges Ansehen behalten wolle.« Nach einem Seufzen fuhr sie fort: »Und doch … wäre ich gewillt, mit Bradford zu tanzen.«
»Nein!«, keuchte Pearlene entsetzt und starrte zu Reeva. »Willst du dir die Chance auf einen angesehenen Ehemann denn völlig verderben? Kein anständiger Mann würde dich mehr in Erwägung ziehen, wenn du mit einem von diesen Schürzenjägern auf die Tanzfläche gehen würdest, bei dem zweifelhaften Ruf, der ihnen vorauseilt. Ausgeschlossen!«
Reevas Augen wurden immer runder und sie begann zu stammeln: »Er … er schaut zu uns. Allmächtiger! Er kommt auf uns zu.«
»Wer?!«, alarmiert hob Pearlene ihre Augengläser wieder an und glaubte sich einer Bewusstlosigkeit nahe, denn kein anderer als Bradford Lyndon schritt durch die Besucher, direkt auf sie zu, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen. Pearlene lief ein Schauer den Rücken hinab, denn sein Blick glich dem eines lauernden Raubtiers.
*
Der Mann bewegte sich unauffällig durch die Menschenmenge, in der er vollkommen unterging. Keiner der Gäste nahm ihn wahr.
Die Anweisungen im Brief seines Meisters waren eindeutig gewesen. Er wusste genau, welchem Mädchen er die Droge ins Getränk mischen musste, lediglich der richtige Zeitpunkt war abzuwarten. Er kannte ihren Namen und hatte sie im Auge, seit sie das Fest betreten hatte und sie mit ihrem Titel den Gästen vorgestellt worden war. Sie war älter als die bisherigen Jungfrauen, aber das war ihm persönlich gleich, denn alles, was der Meister befahl, hatte einen bestimmten Grund, selbst wenn ihm dieser nicht immer ersichtlich war. Für die Zeremonien verlangte es nach ganz besonderen Jungfrauen und diese suchte nun einmal der Meister aus.
Die blonde Frau stand an einem Tisch, sie hatte ihr Glas abgestellt. Er hatte Glück, dass dort, wo sie stand, ein dichtes Gedränge herrschte. Alle Blicke waren auf die Tanzfläche gerichtet. Wie aufgetragen gelang es ihm, die Droge in einer schnellen Bewegung heimlich in ihr Glas zu geben. Da man bei den Debütantinnen nie sicher war, ob sie das Glas bis zum letzten Zug leeren würden, war das Mittel hochkonzentriert. Auch wenn sie nur einen kleinen Schluck zu sich nähme, würde sie todmüde werden und sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Sollte sie das Glas bis zur Neige austrinken, würde sie früher oder später völlig das Bewusstsein verlieren, dann bräuchte er zumindest das Tuch mit dem Äther nicht zu verwenden. Die jungen Dinger suchten meist einen abgelegenen Ort auf, sobald die Droge ihre Wirkung zeigte, um sich in der Öffentlichkeit nicht die Blöße einer Ohnmacht zu geben. Manche von ihnen hatten wohl Angst, ihnen würde unterstellt werden, sie vertrügen den ersten Alkohol nicht und hofften auf Besserung, wenn sie sich einen Moment ausruhen würden. Andere wiederum glaubten, ihr zu eng geschnürtes Mieder wäre die Ursache der übermächtigen Müdigkeit, die sie fälschlicherweise für eine herannahende Ohnmacht hielten. Sie wollten die Verschnürung dann immer in einem einsamen Versteck lockern. Selten war es bisher geschehen, dass die Mädchen sich rechtzeitig an ihre Eltern wandten und ihm entgangen waren. Gerade zweimal hatte er seinem Meister ein Scheitern mitteilen müssen. Allerdings glaubte er, allmählich zu beobachten, dass die Leichenfunde die Leute vorsichtiger handeln ließen. Kein Mädchen war mehr ohne Begleitung zu sehen, nicht mal für wenige Schritte. Falls das Feuerwerk nicht genug Ablenkung bot, musste er sich etwas einfallen lassen, um das Mädchen in einem unbeobachteten Moment erwischen zu können. Ein Augenblick würde reichen, denn der Park bot mit seinen Sträuchern und Bäumen, die in der Dunkelheit lagen, genügend Unterschlupfmöglichkeiten. Sie nachher in das Boot zu schleppen, das sie zu seiner Kutsche und schließlich in den Tempel bringen würde, wäre dann bloß noch eine Kleinigkeit. Dazu musste er zwar quer durch den Park, aber das würde er bewältigen. Er musste sich jetzt nur noch in Geduld üben. Alles würde wie immer nach Plan laufen, denn die Macht des Leibhaftigen war groß.
Schnell senkte Pearlene ihre Stielbrille und wandte ihren Blick von Bradford ab, um gebannt auf die Tanzfläche zu starren. Sie zwang sich zur Ruhe, denn gewiss suchte der Bruder des Grand Duke Lyndon nicht sie auf. Warum sollte er? Und selbst wenn, wäre es klüger ihn zu ignorieren. Ihre Chancen, einen Ehemann zu finden, waren sowieso gering. Die würde sie sich bestimmt nicht völlig zunichtemachen, indem sie sich mit einem der berüchtigtsten Weiberhelden Londons abgab.
Obwohl Pearlene versuchte, sich auf die tanzenden Paare zu konzentrieren, die im Takt der Musik über das Parkett schwebten, nahm sie im äußeren Sichtfeld wahr, wie sich Bradford neben ihr aufbaute und eine Verbeugung andeute.
»Mylady, darf ich um diesen Tanz bitten?«
Pearlenes Atmung wurde immer hektischer. Alle Anwesenden schienen auf eine Reaktion ihrerseits zu warten. Eigentlich wollte sie Bradford keine Beachtung schenken, aber wie von selbst huschten ihre Augen zu ihm hinüber. Im selben Moment erhitzten sich abermals Pearlenes Wangen, was an diesem Abend fortwährend geschah. Und immerzu war einer der Lyndon-Brüder dafür verantwortlich. Bradford strahlte sie an, allerdings reichte sein Lächeln nicht bis an seine eisblauen Augen, die sie auf unverschämte Weise traktierten. Jetzt, da er so dicht vor ihr stand und sie sein Gesicht deutlich erkennen konnte, wusste sie, weshalb sie die Gerüchte über seine Affären nicht anzuzweifeln brauchte. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie solch einen attraktiven Mann gesehen. Lag es an seiner hohen Stirn, den markanten Augenbrauen, den ausgeprägten Wangenknochen oder dem kantigen Kiefer, dass sich ihr Magen im Kreis drehte? Bradfords Lippen waren schmal, nicht einmal gleichmäßig, da die Unterlippe einen Hauch voller war. Und dennoch war sein Mund faszinierend, gerade mit diesem Schmunzeln, das offenlegte, dass er sehr genau um seine Ausstrahlung wusste. Auch seine Nase hatte nichts Besonderes, weder war sie lang noch kräftig oder zeigte einen Buckel, was ihm das gewisse Etwas verliehen hätte. Aber trotz dieser an sich gewöhnlichen Züge, hatte die Natur daraus ein perfektes Zusammenspiel an männlicher Schönheit komponiert, deren vorherrschender Ton das kühle Blau seiner tiefliegenden Augen war, die einen fesselten.
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