„Noah ist tot und Julian ist verschwunden? Um Gottes Willen! Was ist passiert?“
„Deshalb sind wir hier. Vielleicht haben Sie eine Ahnung, wo sich Julian aufhalten könnte.“
„Woher soll ich das wissen? Ja, ich kenne Julian schon sehr lange, so wie auch Noah, aber ich weiß nie, wo sie sich herumtreiben.“
„Wie ist Ihr Verhältnis zu der Familie Brechtinger?“
„Nicht nur gut, sondern sehr gut. Ich bin Markus‘ Geschäftspartner und ein enger Freund der Familie, der ich sehr viel zu verdanken habe. Früher hatte ich keine Lust auf Schule und Ausbildung. Als ich bei Markus anfing, glaubte ich nicht daran, dass ich dort bleiben würde. Arbeit war nichts für mich. Aber Markus hatte viel Geduld mit mir und hat mich unter seine Fittiche genommen. Er war ein sehr guter Ausbilder und dazu wie ein Vater für mich; mehr, als es mein eigener jemals war. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.
„Sie haben sich in die Firma eingekauft?“
„Ja. Die Erbschaft meiner Großmutter und meine Ersparnisse haben zum Glück ausgereicht. Markus hat mich dazu ermutigt. Ich vermute, dass er mit seinem Sohn nicht als Nachfolger rechnet, dessen Interessen gehören nicht der Baubranche. Nach dem Abitur soll er studieren, das braucht er in unserem Gewerbe nicht zwingend. Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich sage, dass Julian nicht für die Baubranche geschaffen ist. Er ist keiner von denen, die gerne mit den Händen arbeiten. Er verkriecht sich lieber hinter seinem Computer und seinen Büchern.“ Jochen Müller grinste.
Leo mochte den Mann nicht. Er war ihm zu glatt und einen Tick zu überheblich.
„Falls Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“
Leo und Hans saßen im Wagen und atmeten tief durch.
„Was ist heute Nacht geschehen?“
„Das müssen wir herausfinden.“
„Womit fangen wir an?“
„Beide Eltern sagten aus, dass die Jungs immer zusammen waren. Wir müssen die Gegend um den Unfallort absuchen.“
„Du denkst, dass Julian dort irgendwo ist?“
„Keine Ahnung. Aber ich möchte mir später nicht den Vorwurf machen, nicht nach ihm gesucht zu haben.“
„Willst du heute noch nach ihm suchen?“
„Auf jeden Fall.“
Bettina Geiger saß weinend auf der Bank vor dem Jägerhäusl im Kastler Forst. Immer wieder stand sie auf und blickte sich um. Endlich! Dort hinten kam er! Sie lief auf ihn zu und die beiden fielen sich in die Arme; dabei schluchzte Bettina und weinte hemmungslos.
Markus Brechtinger versuchte, sie zu trösten. Er sprach mit ruhiger Stimme, auch wenn ihm klar war, dass sie ihm nicht zuhörte. Er wusste, dass kein Wort der Welt den Schmerz dieser Frau lindern konnte.
Langsam beruhigte sich Bettina. Das war auch gut so, denn ein Radfahrer näherte sich und sie durften nicht in dieser Vertrautheit gesehen werden. Markus und Bettina hatten seit zwei Jahren eine Affäre, die vor zehn Monaten durch einen dummen Zufall aufgedeckt wurde. Die Ehepartner waren enttäuscht und wütend. Roswitha Brechtinger war sogar kurz davor, sich scheiden zu lassen, und machte ihrem Mann vor den Augen ihres Sohnes eine heftige Szene. Sie gingen sogar zur Paartherapie, was für Markus reine Zeitverschwendung war, denn er liebte seine Frau schon lange nicht mehr und daran würde sich auch nichts mehr ändern. Er blieb nur wegen des gemeinsamen Sohnes, nur ihm zuliebe hielt er die ständigen Streitereien und Demütigungen aus, die lange vor Bekanntwerden der Affäre an der Tagesordnung waren. Markus Brechtinger hatte mit Bettina vereinbart, mit einem gemeinsamen Leben zu warten, bis beide Söhne mit der Schule fertig waren. Nur noch ein Jahr, und dann waren sie frei. Für Alexander Geiger war eine Scheidung nie eine Option gewesen, denn die würde sich eventuell negativ auf die Geschäfte auswirken, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielten. Trotzdem hatte ihn das Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem besten Freund bis ins Mark getroffen. Seitdem gingen sich die Paare aus dem Weg.
Bettina Geiger und Markus Brechtinger sahen sich nach Bekanntwerden ihrer Affäre drei Monate nicht, bis es Markus nicht mehr aushielt und seine Geliebte vor dem Garchinger Schuhgeschäft abfing. Er konnte und wollte nicht ohne sie sein, zumal seine Frau noch schlimmer geworden war. Die dominante und bestimmende Art wurde durch Boshaftigkeiten und tägliche Sticheleien fast unerträglich. Markus schob abends oft Arbeit vor, um so spät wie möglich nach Hause gehen zu müssen, wo ihn seine fiese Frau erwartete und ihn wie so oft mit Demütigungen und Streitigkeiten drangsalierte. Am Morgen ging er sehr früh außer Haus und atmete tief durch, wenn er im Wagen saß und er endlich seine Ruhe hatte. Es kam nicht selten vor, dass Roswitha ihn kontrollierte, was ihm zusätzlich auf die Nerven ging.
Bettina wurde von dieser Behandlung zuhause verschont, allerdings war Alexander mit seiner Ignoranz und Schweigsamkeit auch nicht viel besser. Im Hause Geiger herrschte Totenstille, was ihr sehr aufs Gemüt schlug. War sie nicht selbst schuld daran?
Seit Markus sie angesprochen hatte, trafen sie sich alle zwei Wochen am Jägerhäusl im Kastler Forst, immer zur selben Uhrzeit. Ihnen blieb nie viel Zeit, außerdem mussten sie vorsichtig sein. Es gab keine Telefonate zwischen ihnen und keine Geschenke. Nichts durfte sie verraten. Die wenigen Augenblicke genossen sie und schöpften daraus die Kraft, die nächsten beiden Wochen zu überstehen.
„Ich war mir nicht sicher, ob du kommst, mein Engel. Wie geht es dir?“
„Wie soll es mir gehen? Mein Junge ist tot!“ Wieder weinte sie und schmiegte sich dabei eng an ihren Geliebten, den sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen.
„Noahs Tod tut mir sehr leid. Ich mochte den Jungen, er war wie ein zweiter Sohn für mich.“
„Das weiß ich. Gibt es schon eine Spur von Julian?“
Markus schüttelte den Kopf. Jetzt kämpfte er mit den Tränen, was Bettina bemerkte. Sie küsste ihn.
„Lass es raus, Markus. Du kannst nicht immer stark sein.“
Nun weinten sie beide und hielten sich aneinander fest.
„Was passiert mit uns?“
„Ich weiß es nicht.“
Die Zeit ging wieder viel zu schnell vorbei. Sie hätten sich noch so viel zu sagen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Sie gestatteten sich nur eine halbe Stunde, die musste reichen.
Markus verabschiedete sich und sah Bettina hinterher. Er wollte ihr für die Beerdigung tröstende Worte mit auf den Weg geben, die er sich sorgsam zurechtgelegt hatte. Jetzt war es dafür zu spät, sie war weg.
Markus setzte sich in seinen Wagen. Tief im Inneren rechnete er bereits mit dem Tod seines Sohnes. Würde er je damit zurechtkommen, wenn sich das bestätigte? Julian war sein ganzer Stolz, er liebte ihn sehr. Er hatte ihn oft gegen seine zänkische Mutter in Schutz genommen, wenn sie wieder einen ihrer Anfälle hatte. Dafür hatte er selbst von ihr alles abbekommen, aber das war ihm immer gleichgültig gewesen. Julian! Was war mit ihm geschehen? Markus weinte und betete, auch wenn er kein gläubiger Mensch war. Er betete nicht nur, sondern flehte Gott an. Ein Jogger lief an seinem Wagen vorbei, weshalb er mit dem Gebet aufhörte und sich langsam wieder beruhigte. Markus nahm sich fest vor, einiges in seinem Leben zu ändern, wenn sein Sohn wieder gesund auftauchen sollte. Ja, das würde er machen. Natürlich würde er sich sofort von seiner Frau trennen, dafür war es schon längst höchste Zeit. Er würde seine Firmenanteile verkaufen und sich an einem schönen, ruhigen Platz ein neues Leben aufbauen. Noch war er nicht zu alt dafür, noch war Zeit genug. Aber das alles würde er nur machen, wenn er Julian wieder in seine Arme schließen konnte.
Mit einem Kloß im Hals fuhr er zur Firma. Dort stand der Wagen seiner Frau, die wie immer direkt vor der Eingangstür parkte, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Das wusste Roswitha und deshalb ließ sie sich davon auch nicht abbringen.
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