»Weißt du denn, wer mein leiblicher Vater ist?« Die Frage beschäftigte mich schon, seit ich das Haus betreten hatte.
»Nein, wie gesagt, Sue-Ann kam schon schwanger zu mir. Von dem Erzeuger hatte sie nie ein Wort erwähnt. Ist das denn wichtig?«
Ich runzelte die Stirn. »Natürlich.« Dass Ralph so reagierte, hatte ich nicht von ihm erwartet. Irgendwas musste er mir doch verschweigen. »Oder bist du mein Vater?«, platzte es aus mir heraus.
»Jordan, was soll das?« Mama kam auf mich zu.
»Was denn? Ralph hatte mir doch gesagt, dass ich ihn alles fragen darf. Und es ist mir wichtig, dass ich alles erfahre, was er weiß.« Ich gestikulierte wild mit meinen Armen.
»Bitte, Jordan. Sei mir nicht böse. Ich weiß es wirklich nicht. Es muss irgendein Mann sein, der mit Sue auf der Straße gelebt hatte.« Er zuckte mit den Schultern. Ich nahm ihm die Antwort trotzdem nicht ab. »Wollen wir nicht ins Nähzimmer gehen?«
»Können wir machen.« Ich zog einen Schmollmund und trottete hinter ihm her. Ich war mir so sicher, dass er mehr wusste, als er mir erzählte.
»Deine Großmutter hat wunderschöne Sachen gemacht. Den Quilt im Schlafzimmer zum Beispiel.«
»Schade, dass ich sie nicht kannte. Vielleicht hätte sie mir auch etwas genäht.«
»Sicher, davon gehe ich aus. Du, Jordan.« Er nestelte an seinem Mantel, der immer noch über seinem Unterarm hing, herum. »Es tut mir wirklich leid. Ich hätte gedacht, dass ich dir alle Fragen beantworten kann, doch dem ist wohl nicht so.«
»Stimmt.« Ich blickte in den Handarbeitsraum. Dort befand sich ein großer Schreibtisch, der damals wohl als Nähtisch fungiert hatte, denn die Nähmaschine stand jetzt auf einer der Kommoden. »Eine Frage habe ich noch. Wie alt bist du?«
»Ich bin 55 Jahre.« Ralph fuhr sich durchs Haar. »Hab mich gut gehalten, oder?«
»Ja, könnte sein.« Ich runzelte die Stirn.
Das Verhältnis zwischen uns kühlte sich rapide ab und Ralph wurde langsam ungeduldig.
»Ich zeige euch noch den Garten. Er ist wunderschön.«
Eine große Terrasse mit zwei Liegestühlen, die eingeklappt unter einer großen Plane in der Ecke standen, Blumen sprossen aus Töpfen und Vögel zwitscherten von den Bäumen im Garten. Der Rasen war akkurat gemäht und im kleinen Froschteich spiegelten sich die Sonnenstrahlen.
Lena und Kevin knutschten unter dem Apfelbaum und Lukas stand mit unserem Vater im Schatten und begrüßte uns. »Da seid ihr ja endlich.«
»Ja, tut mir leid. Es hat etwas gedauert.«
»Jordan hatte viele Fragen, was sehr verständlich ist.« Ralph zog seinen Mantel an und trat in die Sonne. »Leider konnte ich ihr nicht alle Fragen beantworten. Wer zum Beispiel ihr leiblicher Vater ist.«
»Ist das denn wichtig für dich, Jordan? Sei doch froh, dass du überhaupt irgendetwas von deiner leiblichen Familie erfahren hast und dass es so gute Dinge sind.« Papa kam auf uns zu.
»Gut? Meine leibliche Mutter ist tot, meinen Vater kennt keiner und meine Großeltern sind auch verstorben. Ich hätte sie gerne mal kennengelernt.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sicher, aber du hast doch uns.« Mein Vater kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Alles andere schaffen wir auch noch.«
Ich schloss die Augen, als ich in seinen Armen lag.
»Andere Kinder haben niemanden, wissen nicht, woher sie kommen. Du weißt es jetzt.« Er nahm mein Kinn, so dass ich ihm in die Augen blickte. »Und sei nicht so, denk an deine Mutter«, flüsterte er mir zu und deutete zu Mama. Was musste ihr wohl die ganze Zeit im Kopf herumgeistern? Ob sie Angst davor hatte, mich zu verlieren? Es ist doch wichtig, was ich jetzt habe, und nicht, was ich hätte haben können. Vergangenheit ist nun mal vergangen. Von Bedeutung ist nur, was mir die Zukunft bringt.
Ich ging zu meiner Mutter und nahm sie ebenfalls in den Arm. »Wollen wir einen Tee trinken? Wir können doch schauen, was Brian noch so auf Vorrat hat.« Ich trabte voran in die Küche und suchte in den Schränken nach Tee. Schnell wurde ich fündig und stellte fest, dass er noch nicht abgelaufen war. Hier in Amerika musste ich etwas umdenken, denn die Amerikaner schrieben das Datum anders als wir in Deutschland. 8/3/2012 bedeutet 3. August 2012.
Der Kessel war in einem Schrank unter der Kochinsel und pfiff schnell, nachdem ich den Herd angeschaltet hatte.
Zucker gab es reichlich und das Teeservice in einem der alten Schränke wurde von Lena, die fertig geknutscht hatte, aufgedeckt.
Alle nahmen an dem runden Esszimmertisch Platz und schenkten sich Tee ein. Dazu reichte ich den Zucker und die Teelöffel.
»Erst einmal sollten wir Ralph danken«, sagte unser Vater. »Danke für die freundliche Aufnahme hier in Oklahoma und für die nette Betreuung.«
»Ja, danke«, murmelte ich und nippte an meinem Tee. Was sollte ich sonst sagen? Ich fühlte mich immer noch unbehaglich und hatte immer noch dieses komische Gefühl gegenüber Ralph.
»Gern geschehen. Wie ich schon sagte, war mir das ein großes Anliegen. Mary-Ann und Brian konnten ihre Enkelin nicht kennenlernen, aber dafür lernt Jordan einen Teil von ihnen kennen. Auch wenn sie schon verstorben sind«, fügte er noch schnell hinzu.
»Ja, das denke ich auch.« Unsere Mutter rührte ihren Tee um.
»Verkauft ihr das Haus jetzt?«, fragte Lena, die sich über die gesamte Besichtigung ruhig verhalten hatte.
»Verkaufen?« Ralph verschluckte sich fast an seinem Tee, so dass Lukas ihm kräftig auf den Rücken schlug. »Entschuldigt.« Ralph nahm eine Serviette und wischte sich den Mund trocken. »Ihr wolltet das Haus verkaufen?«
»Nun ja, wir wohnen in Deutschland. Das ist nicht gerade um die Ecke, so dass wir hierherziehen könnten.« Meine Eltern tauschten einen Blick.
»Aber das könnt ihr nicht machen. Die ganzen Sachen, die Dinge hier.«
»Ich weiß, dass dir die Sachen viel bedeuten. Wir werden uns da sicher einig.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Dieser Satz kam mir schwer über die Lippen, denn ich wollte, dass er aus dem Haus verschwand.
»Weißt du, dass ich nach dir gesucht habe, weil ich mir sicher war, dass du das Haus deiner Großeltern behalten würdest?«, sagte Ralph. Er hatte seine Hände fest um die Teetasse gelegt, so dass die Handknöchel weiß hervortraten.
Wie konnte ich ihm erklären, dass mir die Sachen nicht so viel bedeuteten wie ihm? Ich kannte diese Familie, mit denen ich blutsverwandt war, doch überhaupt nicht. Und nun sollte ich mich an Dingen erfreuen, die ich noch niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte? Es war alles so merkwürdig. Ich erlebte gerade eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich trauerte um die Menschen, die ich nicht kennenlernen konnte, doch war ich mit keiner ihrer Habseligkeiten verbunden. Bei Ralph war es anders. Er kannte sie, ich verstand ihn, doch musste ich das tun, was für mich und meine Familie am besten war. »Ich kann dich verstehen.« Hilfesuchend blickte ich zu meiner Mutter.
»Ich denke wir sollten erst einmal ankommen, dann können wir immer noch darüber sprechen. Jetzt trinken wir erst mal unseren Tee.«
»Das ist gut.« Ralph schenkte sich nach.
»Du, Ralph, gibt es hier irgendwo noch ein paar Fotos? Ich würde mir gerne noch welche ansehen«, fragte ich. Ralph sprang auf und ging hinüber zu der Kommode. Eigenartig, er bewegte sich hier, als würde ihm das Haus gehören, als hätte er hier gewohnt. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn.
»Hier, ich wusste doch, dass Brian einige Alben versteckt hat.« Ralph legte mir ein Fotoalbum auf den Tisch. »Musst du mal hineinschauen. Ich weiß nicht, aus welchem Jahr die stammen.« Ralph setzte sich, bis sein Handy läutete. Er suchte in seinem Mantel, den er nach der Führung zurück an die Garderobe gehängt hatte, und entschuldigte sich mit einem Nicken in die hinteren Räume.
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