Als wir in den Leihwagen stiegen, schaltete Papa sofort die Klimaanlage an und Mama suchte verzweifelt die Frischhaltetücher in ihrer Tasche. »Oh Mann, ist das heute warm.« Sie reichte Lena und mir ein Tuch. »Hier, damit könnt ihr euch etwas frischmachen.«
»Ich weiß gar nicht, wie Ralph das in seinem Mantel aushält«, sagte ich.
»Das möchte ich auch wissen. Vielleicht hat er ja keine Wärmeempfindung oder keine Schweißdrüsen.« Lena fächerte sich mit ihrem Flyer Luft zu.
»Mm, vielleicht.«
Mein Vater fuhr in eine Straße mit einem Wendehammer und hielt auf einer Auffahrt mit einem weißen Garagentor und einer amerikanischen Flagge im Vorgarten gleich hinter dem Van.
Es war das Haus auf dem Foto, ein Bungalow!
Ralph stieg aus und kam auf uns zu. »Bevor wir reingehen…« Er holte ein Schlüsselbund aus seiner Manteltasche. »möchte ich dir den Schlüsselbund geben. Dieser da, ist der Haustürschlüssel.« Er deutete auf einen Schlüssel mit roter Silikonhülle. »Dort sind alle Schlüssel, die zu diesem Haus gehören. Es wurde nichts ausgeräumt oder verändert. Ich hatte gedacht, dass du dir alles so ansehen möchtest, wie sie es hinterlassen haben.«
Ich nickte stumm. Mein Herz hämmerte und meine Füße fühlten sich an wie Blei. Wenn ich durch diese Tür gehen würde, dann öffnete ich das Tor zu meiner Vergangenheit. Ich könnte Dinge erfahren, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen könnten, doch war es für einen Rückzieher zu spät. Die Formulare waren unterschrieben und das Haus gehörte mir. Da ich aber noch nicht volljährig war, sollten meine Eltern bis dahin mein Erbe verwalten. Erst fand ich das ungerecht, doch nachher war ich froh, dass mein Vater den ganzen Papierkram übernahm und ich nur ab und zu unterschreiben musste.
Ich öffnete die Tür und wir fanden uns in einem geräumigen Wohnzimmer mit angrenzender großer Wohnküche wieder. Es war altmodisch eingerichtet, alte, vielleicht schon antike Schränke standen an den Wänden und eine große dunkelbraune Vitrine, passend zu dem Rest der Möbel, stand in der Küche.
»Einmal in der Woche kommt Señora Diaz und macht hier ein bisschen sauber. Staub wischen, lüften.«
»Das klingt gut.« Ich beobachtete, wie Ralph seinen Mantel abnahm und auf die Garderobe hängte. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo der Band Kiss. Seine Arme waren mit einem weißen Verband verbunden. »Was ist denn mit dir?«, fragte Lena.
»Ich habe eine Sonnenallergie. Der Verband kühlt meine Arme. Ich liebe die Jahreszeit, doch für meinen Körper ist sie tödlich. Darüber bin ich auch sehr traurig. Der Mantel verdeckt meine Haut, der Kragen meinen Hals und der Hut mit der Krempe mein Gesicht.«
»Oh, das tut mir sehr leid.« Sie ging zu Kevin, der nach ihrer Hand griff.
»Ach, das ist schon in Ordnung. Ich habe es ja nicht erst seit gestern.« Er winkte ab. »Also, wie gefällt es dir?«
»Also, mir gefällt die Kochinsel«, gestand Mama und fuhr mit dem Finger über die Arbeitspatte.
»Mir gefällt es auch.« Genau genommen war ich überwältigt von der Gemütlichkeit des Hauses. Ich fühlte mich sofort heimisch und wollte so viel wie möglich über meine leibliche Familie erfahren.
»Hier auf dem Kaminsims stehen Familienfotos, auch welche von deiner Mutter.« Ralph deutete zum Kamin.
Meine Beine kribbelten, als wären sie eingeschlafen, und ich hatte Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Hier ist sie.« Ralph gab mir einen Bilderrahm mit einem kleinen, leicht verzerrten Foto. Eine Frau mit dunklen Haaren, Augenringen und erschöpftem Lächeln. Auf dem Arm hielt sie ein kleines Bündel, in dem ein Baby lag und die Augen geschlossen hatte.
»Weißt du, wer das ist?«
»Mm, nein.«
Hinter mir erschien Lukas. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. »Das bist bestimmt du, Jordan.« Er kaute Kaugummi und machte gerade eine Blase, um sie danach platzen zu lassen.
»Vielen Dank auch.« Damit hatte er diesen magischen Moment gerade zerstört.
»Das stimmt. Deine Mutter durfte dich nach der Geburt kurz auf den Arm nehmen, bevor dich deine Adoptiveltern bekamen.«
»Wer hat das Foto gemacht?«
»Das war ich.« Ralph räusperte sich.
»Und warum hat sie mich abgegeben? Warum haben mich meine Großeltern nicht aufgenommen?«
»Sue-Ann wollte nicht, dass ihre Eltern von der Schwangerschaft erfuhren. Sie kam eines Nachts zu mir, denn sie wusste, dass ich sie nicht zurückbringen würde.«
»Wohin zurück?« Ich zog die Stirn kraus.
»Puh.« Ralph kratzte sich am Nacken. »Es ist so, Sue-Ann war drogenabhängig. Mary-Ann und Brian hatten immer wieder versucht sie in eine Klinik zu stecken. Sie brauchte Hilfe, doch entließ sie sich immer wieder selbst. Sue-Ann brach den Kontakt ab.«
»Oh, das ist sehr traurig.« Ich schluckte. So eine Geschichte hatte ich natürlich nicht erwartet. »Und was geschah dann?«
»Hey, Jordan, wir sehen uns ein bisschen um«, hörte ich Stimmen hinter mir, die ich nur mit einem Nicken beantwortete.
»Wollen wir uns kurz setzen?« Ralph deutete auf die Couch, die so weich war, dass sie mich fast verschluckte. Angela gesellte sich dazu.
»Eines Nachts stand Sue-Ann im vierten Monat schwanger vor meiner Tür.« Ralph kratzte sich an der Nase. Er wirkte nervös, vielleicht musste er sich deshalb überall kratzen? »Na ja, sie brauchte meine Hilfe, also bat ich sie herein und stellte ihr mein Bett zur Verfügung.«
Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Ich schlief natürlich auf der Couch«, sagte er abwehrend und hob die Hände.
»Und meine Großeltern schöpften keinen Verdacht?«
»Nein, überhaupt nicht. Es war fast schon unheimlich, denn ich bin kein guter Lügner«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dass sie mich durchschauen würden und mich auf mein komisches Verhalten ansprechen würden.« Ralph setzte sich auf die andere Couch uns gegenüber und faltete die Hände ineinander. »Doch sie taten es nicht.«
»Und warum hat sie mich denn weggegeben?« Ich strich mit meinem Finger über das Bild. Das Glas war glatt und kühl.
»Du musst verstehen, dass Sue-Ann nichts hatte. Sie hatte kein Geld, keinen Wohnsitz. Sie schlief mal hier und mal dort. Wo es günstig den nächsten Schuss gab.« Ralph hielt inne und beobachtete mich. Ein Strudel von wirren Gefühlen wirbelte an mir vorbei. Ich stieß einen Seufzer aus, blinzelte, um mir die Tränen zu verkneifen, und versuchte gleichzeitig stark zu wirken. Doch meine Schale knackste, bröckelte und fiel langsam zu Boden. Eine Träne löste sich und rann mir die Wange hinab. Es konnte doch nicht stimmen? Warum nur habe ich mich dafür ausgesprochen, das Erbe anzunehmen? Ich wollte das alles nicht mehr, nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Am liebsten wäre ich hinausgelaufen und mit dem nächsten Flieger zurück nach Hause. Doch natürlich wusste ich, dass dieser Wunsch im Moment nicht mal annähernd möglich war.
Als ich die Haustür aufgeschlossen hatte, öffnete ich das Tor zu meiner Vergangenheit und somit die verbundenen Verluste meiner leiblichen Familie. Das hätte ich alles vorher bedenken müssen und nun war es zu spät. Ich wischte mir die Träne weg. Meine Mutter legte mir eine Hand auf die Schulter und streichelte sie, sagte aber nichts. Vielleicht wusste sie nichts zu sagen, denn ich weinte hier schließlich um eine Frau, die ich gar nicht kannte, die mich aber geboren hatte.
»Ich weiß, dass es schrecklich für dich sein muss, erst jetzt, da alle verstorben sind, etwas über deine leibliche Familie zu erfahren. Deine Mutter wollte nur das Beste für dich, deshalb hat sie dich weggegeben. Zuerst musstest du einen Entzug machen, bevor sie dich zu einer Familie vermitteln konnten.«
Ich war drogenabhängig? Ich schluckte und dachte darüber nach. Natürlich, wenn meine Mutter abhängig war, war ich es bis zum Tag meiner Geburt auch. »Wie, wie war sie denn so?«
Читать дальше