»Ihr müsst Jean und Samuel sein?«, fragte der Größte von ihnen in schlechtem Englisch.
»Ja, das ist Samuel und ich bin Jean.«
»Gut, dann kommt. Setzt euch.«
»Ich bin Diego. Mit den anderen könnt ihr euch nachher bekannt machen.« Er zeigte in die Runde. »Seid ihr durstig? Ich lasse euch etwas zu trinken bringen.«
»Ja, gerne.« Samuel legte seine Hände auf den Tisch. Sein dunkelbraunes Haar klebte ihm auf der Stirn.
Diego hob die Hand und einer der Männer stand auf. »Kommen wir zum geschäftlichen Teil.«
Auf dem Tisch lagen mehrere Pässe, was Samuel stutzig machte. Er blickte Jean an, der ihm auswich.
»Hier sind eure Pässe. Die Fotos sehen euch ziemlich ähnlich. Benutzt sie nur im äußersten Notfall. Einen Hubschrauber haben wir organisiert, und wenn wir erst einmal die Funai passiert haben, kann uns nichts mehr passieren.«
Samuel nahm einen der Pässe entgegen. »Jayden Garcĭa«, murmelte er. Eigentlich wollte er fragen, warum er einen neuen Pass brauchte, aber er traute sich nicht. Die Männer waren ihm unheimlich.
Die Getränke wurden auf den Tisch gestellt. Es gab Bier, was Samuel überhaupt nicht mochte. Vielleicht war er doch ein wenig verweichlicht, dachte er, während er an seinem Glas nippte.
»Morgen früh werden wir aufbrechen.«
»Dann sollten wir uns gleich hinlegen, damit der Jetlag uns nicht umhaut«, scherzte Samuel, doch niemand lachte.
Über der Kneipe befand sich eine kleine Pension. Samuel und Jean hatten ein Zimmer mit zwei Betten. Samuel stellte seinen Koffer neben einem der Betten ab und setzte sich. Vorsichtig strich er sich die Schuhe ab und krabbelte gleich unter die Bettdecke. Am liebsten hätte er jetzt mit Molly gesprochen, aber in England war es jetzt Nacht und Molly schlief sicher schon.
Als Jean aus dem Gemeinschaftsbad zurück ins Zimmer kam, sah er Samuel nicht an. »Hast du nicht ein paar Fragen?«, sagte er.
»Vielleicht solltest du mir erzählen, was hier vor sich geht.« Samuel drehte sich zu Jean. Natürlich schwirrten ihm gerade tausend Fragen durch den Kopf.
»Früher oder später würdest du es ja sowieso erfahren. Also, das Goldsuchen ist in diesem Gebiet verboten. Deshalb haben wir die gefälschten Pässe bekommen.«
»Wie interessant. Schön, dass mir das auch mal jemand erzählt.«
»Hätte ich dir das vor dem Flug erzählt, wärst du doch gar nicht mitgekommen.«
»Stimmt, da hast du recht. Warum sollte ich etwas tun, wenn es verboten ist?«
»Dein Vater liebte den Nervenkitzel. Ich dachte, er hätte etwas davon an dich weitergegeben.«
»Wahrscheinlich nicht«, grummelte Samuel. Er war enttäuscht von Jean. Warum hatte er ihn nicht eingeweiht?
Die Stille hing wie ein durchsichtiger Vorhang zwischen ihnen.
»Ich denke, du wirst dann morgen wieder zurückfliegen?«, setzte Jean irgendwann an.
»Ich weiß nicht.« Samuel hatte seine Hände ineinander verschränkt und ließ seine Daumen in der Luft kreisen. Eine innere Stimme drang an sein Ohr. Sie sagte ihm, dass er Jean nicht enttäuschen durfte. Es musste die Stimme seines Vaters sein.
»Okay, ich bleibe. Aber unter einer Bedingung.« Samuel wandte sich Jean zu.
»Und die wäre?«
»Ab jetzt möchte ich in jede Kleinigkeit eingeweiht werden.«
Jean schluckte.
Samuel ahnte, dass er noch mehr zu verbergen hatte.
»Sicher«, sagte Jean schließlich zögernd.
»Gut. Sag mal, können wir Diego vertrauen? Auf mich wirkt er nicht vertrauenswürdig.«
»Aber ja. Er war über Jahre Geschäftsführer. Dieser Mann weiß, wie man sich hocharbeitet. Nun ist er der Boss. Er arbeitet selbst nicht mehr.«
»Wir arbeiten für ihn?« Samuel fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Ja, für ein paar Wochen und dann bekommen wir unseren Anteil. Was dachtest du denn?« Jean setzte sich auf.
Samuel fühlte sich etwas unbehaglich. Er schlief mit einem Mann zusammen in einem Zimmer und vor dem Einschlafen sprachen sie über den Tag. So viel redete Samuel sonst nicht einmal mit Molly. »Ich dachte, dass wir beide zusammenarbeiten und jeder seinen Anteil bekommt. Du hast nichts von einem Boss erzählt, der uns einen kleinen Erlös gibt.« Wenn wir den überhaupt kriegen, wollte er noch sagen, doch diesen Satz verschluckte er lieber.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Jean plötzlich.
Zuerst wusste Samuel gar nicht was Jean von ihm wollte, doch dann ging ihm ein Licht auf. »Jayden Garcĭa. Und du?«
»Ich heiße Tomas Sánchez. Das sind gute Namen.« Jean kratzte sich am Kopf. Sein Haaransatz glänzte leicht gräulich.
»Wer sind eigentlich die Funai? Diego hat sie vorhin erwähnt.«
Jean zuckte mit den Achseln. »Das kann ich dir nicht sagen. Fragen wir Diego morgen«, schlug er vor. »Aber jetzt sollten wir erstmal schlafen.«
Mit den ersten Sonnenstrahlen wachte Samuel auf. Im Bett neben ihm träumte Jean noch schnarchend vor sich hin. Schnell kroch Samuel aus dem Bett und schlich sich zu seinem Koffer. Dort suchte er sich passende Kleidung für die bevorstehende Reise heraus. Dabei fiel ihm ein, dass er seit Jahren einen Notgroschen im Koffer versteckt hielt. Das Geld hatte er damals für den Notfall hineingesteckt und er war froh, dass er das Geld noch hatte.
Die Dielen ächzten unter seiner Last, als Samuel über den Flur taperte und sich ins Bad einschloss. Gestern war er zu müde gewesen, um sich zu waschen. Doch als er sich umsah, hätte er am liebsten kehrtgemacht. Die Dusche war völlig verdreckt, und auf der Toilettenbrille waren Spuren von Urin erkennbar. Samuel hob den Deckel mit dem Fuß an und öffnete seine Hose.
Nachdem er sich erleichtert hatte, stellte er sich unter die Dusche.
Irgendwie fühlte er sich nach der Dusche dreckiger als vorher. Vielleicht, weil sich das Wasser hier anders anfühlte? Aber vielleicht lag es auch daran, dass sich zu Hause Dienstmädchen um die Sauberkeit im Badezimmer kümmerten. Nachdem er sich auch die Zähne geputzt hatte, ging er zurück ins Zimmer.
Jean stand angezogen und mit geschultertem Rucksack am Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße. Kein Autofahrer hielt sich an die Straßenmarkierungen. Jeder fuhr, wie es ihm beliebte und niemanden störte es, wenn wie wild gehupt wurde.
Samuel ging zu seinem Bett, packte die restlichen Sachen in den Rucksack und wartete darauf, dass Jean sich umdrehte.
»Ich musste gerade an meine Liebste denken. Sie mochte das Treiben auf den Straßen.« Jean senkte den Kopf.
»Vater hat mir in seinen Briefen geschrieben, was mit deiner Familie und der Familie deiner Freundin passiert ist.«
»Ja. Sie haben es nicht geschafft. Der Krieg war einfach zu brutal. Ich habe sie sehr geliebt und wollte mit ihr eine Familie gründen.«
»Das tut mir leid«, bekundete Samuel noch einmal sein Beileid.
»Ja, mir auch, und auch das mit deinem Vater. Ich habe im Krieg alles verloren.«
»Hast du nach dem Krieg keine andere Frau kennengelernt?«, fragte Samuel interessiert.
»Leider nein. Florence und ich waren Seelenverwandte. Ich hatte einige Verabredungen, aber ich verglich sie alle mit ihr.«
Samuel verstummte. Es tat ihm leid, wie einsam Jean war und dass er sich nicht früher bei ihm gemeldet hatte. Diese Reise bedeutete ihm sicher sehr viel.
»Wollen wir los? Bestimmt wartet Diego schon auf uns.«
»Ja, gerne.« Jean schloss hinter Samuel die Tür.
Die zehn Männer trafen sich auf dem Parkplatz hinter der Pension. Alle trugen große und zum Teil sicher sehr schwere Rucksäcke.
»Da seid ihr ja, Tomas und Jayden. Nennt euch am besten jetzt so, damit ihr die Namen nicht vergesst«, sagte Diego, der im Tageslicht noch ungepflegter aussah, als in der zwielichtigen Kneipe.
»Ja.« Tomas nickte.
»Das ist Luìz. Luìz wird nach mir euer Ansprechpartner sein. Wenn ihr euch an seine Anweisungen haltet, kann euch nichts passieren.«
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