»Nein, ich denke er möchte gar nichts von mir wissen. Außerdem ist der Brief zurückgekommen. Sicher ist dieser Clark weggezogen.«
»Stimmt. Aber was ist, wenn nicht. Vielleicht wollte er es einfach nur nicht wahrhaben.« Mareike malte sich wieder eine Geschichte aus. Eigentlich komisch, dass sie Mathematik und Sport unterrichtete. Diese Schulfächer fielen gar nicht in ihr Gebiet. Wahrscheinlich erfand sie deshalb so gerne spannende Geschichten.
»Mm, ich weiß nicht. Ich frage mich, wie sie ihn kennengelernt hat. Meine Mutter war noch nie in England.«
»Vielleicht weißt du nur noch nichts davon. Stille Wasser sind tief und deine Mutter war ein stilles Wasser.« Mareike presste die Lippen zusammen.
Ich spürte einen kurzen Stich in meiner Brust, als sie das Wort »war« benutzte.
»Ich weiß nicht. Das hätte meine Mutter mir sicher erzählt.«
»Das sehe ich anders. Irgendwas ist da im Busch. Wir müssen nur herausfinden, was es ist.«
Ein wenig neugierig hatte mich die Vergangenheit meiner Mutter schon gemacht. Sehr bald würden die Ferien beginnen und ich würde sechs Wochen Zeit haben. Warum sollte ich also nicht nach England fliegen? Ich könnte in dem Hotel wohnen, das ich mit meiner Klasse für den August gebucht hatte, und eine Spritztour nach London wäre auch noch drin.
»Was denkst du gerade?«, fragte Mareike.
»Ich überlege, ob ich nicht doch nach England fliege. Ich könnte in das Hotel einchecken, in dem ich mit meiner Klasse wohnen werde. So könnte ich es vorab testen.« Ich schmunzelte. »Und natürlich würde ich die Adresse aufsuchen.«
»Wow, das hört sich gut an. Ich glaube, du brauchst die Zeit auch der Trauer wegen. Einfach raus aus dem öden Alltag. Das tut dir sicher gut.«
Irgendwo über dem Atlantik, 1993
Der Wind peitschte gegen das Flugzeug.
Als die Stewardess die Passagiere bat, sich anzuschnallen, krallte Samuel sich in seinen Sitz. Er war noch nie geflogen. Nur weil er sein Versprechen seinem Vater gegenüber nicht brechen wollte, war er in das Flugzeug eingestiegen.
Neben dem unruhigen Samuel döste Jean Cassin friedlich im Sitz. Er war müde vom langen Flug und wollte fit sein, wenn die Maschine in Boa Vista landete.
»Jean, Jean, bist du wach?«, fragte Samuel.
»Mm«, brummte dieser.
»Wie lange dauert es noch?«
»Was denn?«, fragte Jean mit seinem starken französischen Akzent.
»Der Flug. Ich glaube, ich bin für das Fliegen einfach nicht gemacht.«
Jean öffnete die Augen und drehte sich zu Samuel. »Dein Vater hatte Recht.«
Samuel zog die Stirn in Falten. »Womit?«
»Damit, dass du ein Weichei bist.« Jean lächelte und ließ sich wieder in seinen Sitz sinken.
Samuel atmete tief aus. Warum hatte sein Vater so etwas über ihn gedacht? Vielleicht, weil Samuel lieber gemalt und mit Puppen gespielt hatte. Aber das machte ihn noch lange nicht zum Weichei.
Samuel blickte aus dem runden Fenster hinaus auf die weiße Wolkendecke, die sich wie Watte an das Flugzeug schmiegte. Wann würden sie endlich landen? Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er musste einfach zur Ruhe kommen, dann würde die Angst sicher bald verschwinden.
Jean öffnete die Augen und musterte Samuel. Er dachte darüber nach, dass es nun Samuel war, mit dem er nach Boa Vista flog. Eigentlich hatte Jean den Ausflug mit Samuels Vater, Joseph, machen wollen. Jean hatte Joseph im Zweiten Weltkrieg kennengelernt, doch sein Freund hatte diesen nicht überlebt.
Das Flugzeug begann zu sinken und schon bald konnte Jean aus dem Fenster Land erkennen. Vorsichtig klopfte er Samuel auf die Schulter. »Hey, aufwachen. Wir sind gleich da«, flüsterte er.
»Mm.« Samuel streckte die Arme in die Luft und gähnte. »Wie lange habe ich geschlafen?« Er rieb sich die Augen.
»Eine ganze Weile. Du, ich hab nochmal über das nachgedacht, was ich gesagt habe. Du bist kein Weichei. Es ist nur so, dass dein Vater...«
»Ist schon gut.« Samuel hob die Hand. »Ich weiß, dass mein Vater nach außen manchmal ziemlich herzlos wirkte, aber er hatte ein Herz.«
»Du bist sein einziger Sohn und er war stolz auf dich.« Jean starrte auf seine Füße. »Das waren seine letzten Worte.«
Beide schwiegen, bis das Flugzeug den Boden erreichte.
Boa Vista liegt im südlichen Teil des Berglandes Guayana. Es ist die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Roraima. Die Stadt liegt am rechten Ufer des Rio Branco. Das wusste Samuel, als er aus dem Flugzeug stieg und die Hand an die Stirn legte. Die Sonne stand hoch am Himmel und verstreute ihre heißen Strahlen in alle Himmelsrichtungen.
Samuel stellte schnell fest, dass hier alles etwas lockerer zuging als in England. Von der in England unvermeidlichen Hektik, war hier nichts zu spüren. Am Laufband standen sie gemütlich an, sicherlich hätten sie ein bis zwei Kaffee trinken können, bis ihr Gepäck zu sehen war.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so heiß ist«, sagte Samuel, als er seinen Rucksack schulterte.
»Das hatte ich dir gesagt.«
»Du hast etwas von einer anderen Wärme gesagt. Puh!«
»Komm, wir rufen ein Taxi und lassen uns in die Innenstadt fahren. Dort treffen wir uns mit den anderen Männern der Gruppe.«
Samuel war bei diesem Gedanken gar nicht wohl. In einem fremden Land nach Gold zu graben, schien ihm verkehrt. Aber Jean hatte alles bis aufs Kleinste geplant, was ihn ein wenig ruhiger stimmte. Er vermisste seine Frau Molly und die beiden Kinder Skye und Faith. Auch wenn es in seiner Ehe mehr schlechte als gute Zeiten gab, war seine Familie sein ganzer Stolz.
Jean hingegen hatte keine Familie mehr. Seine nahen Angehörigen waren im Zweiten Weltkrieg umgekommen. Zu dieser Zeit hatten sich Joseph und Jean kennengelernt. Sie waren schnell Freunde geworden und hatten Pläne für die Zukunft geschmiedet, wenn sie sich in brenzligen Situationen befanden. Einer dieser Pläne war die Goldsuche hier in Südamerika.
»Danke, dass du mit mir zusammen hier bist. Es bedeutet mir sehr viel«, sagte Jean, als auf das Taxi warteten.
»Du musst dich nicht bedanken. Das tue ich gerne.«
Ein silberner Opel Meriva parkte in der Haltezone und hupte.
»Wir kommen«, rief Jean auf Französisch und hob dabei die Hand.
Der Taxifahrer war so klein, dass er gerade über das Lenkrad blicken konnte. Samuel lächelte.
Die Autofahrt war rasant und schnell zu Ende. Gut für das Portemonnaie, dachte Samuel und tastete nach seiner Gesäßtasche. »Hier. Ich gebe dir etwas dazu.« Er zog einen Schein Cruzeiro aus der Geldbörse und reichte ihn Jean.
Eigentlich wollte dieser das Geld nicht annehmen, aber Samuel bestand darauf.
Der Taxifahrer faltete seine Hände zum Gebet und beugte sich nach vorne. Jean hatte ihm viel mehr gegeben, als er musste.
»Komm, los jetzt. Wir treffen uns in einem Pub hier irgendwo um die Ecke.« Jean holte seine Karte aus der Hosentasche und faltete sie auseinander. Mit dem Finger fuhr er die Strecke nach, die das Taxi vom Flughafen zurückgelegt hatte.
»Na dann komm. Worauf wartest du?« Samuel schulterte seinen Rucksack, den er aus dem Kofferraum geholt hatte und war im Begriff loszugehen.
»Okay, dann los.« Jean zögerte, irgendetwas bedrückte ihn.
Die beiden Männer stiegen drei Stufen hinab und standen dann in einer zwielichtigen Kneipe. Jean nickte dem Wirt zu, als sie an den Tresen gingen. Jean sagte etwas auf Französisch und dann folgten sie dem Wirt bis zu einer Hintertür. Jean und Samuel traten in einen Raum, der nur von nackten Glühbirnen beleuchtet wurde.
»Hallo«, sagte Samuel.
»Bonjour.« Jean nickte den Männern am Tisch zu.
Dieser Raum wurde sonst sicher für illegale Pokerspiele genutzt, vermutete Samuel.
Acht gut gebaute Männer saßen am Tisch und blickten die beiden Frischlinge an.
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