Das Bild zeigte meine Mutter als Teenager. Sie wurde von einem großen Jungen im Arm gehalten, der sicher einige Jahre älter war als sie. Verliebt himmelte sie ihn an.
»Wer ist das?«, fragte ich und starrte das Foto wie in Trance an.
»Wahrscheinlich dieser Clark. Komm, wir lesen den Brief, dann wissen wir mehr.« Mareike war ganz aus dem Häuschen und auch ich verdrängte für einige Minuten meine Traurigkeit.
»Ich weiß nicht.«
»Ach, nun sei nicht so. Ich mach das.« Mareike faltete den Brief auseinander und fuhr mit der Hand über das edle Papier. »Deine Mutter hatte wirklich eine schöne Schrift.«
»Ja, Briefe schreiben war ein Hobby von ihr. Sie wollte kein Handy haben, obwohl ich es ihr so oft vorgeschlagen habe. Dann hätte sie SMS schreiben können.« Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich an das Gesicht meiner Mutter dachte.
Liebster Clark, Lübeck, den 01.10.1963
ich wollte dir zuerst nicht schreiben, doch ist es wichtig, dass du weißt, was ich dir zu sagen habe.
Ich war sehr enttäuscht von dir, weil du bei meinem Abschiedsfest nicht da warst. Ich hatte mich so auf dich und einen letzten Abend mit dir gefreut.
Weißt du noch, wie wir im Park gesessen und Kirschen gegessen haben? Die Sonne hatte uns aus dem Haus gelockt, aber die Angst, von deinen Eltern erwischt zu werden, war immer da. Aber etwas Verbotenes zu tun, ist auch aufregend!
Leider ist unsere Liebelei nicht ohne Folgen geblieben. Ich habe eine Tochter bekommen. Sie heißt Andrea. Ja, sie ist deine Tochter. Ein Kind sollte nicht ohne Vater aufwachsen, also hoffe ich inständig auf eine Nachricht von dir.
In Liebe,
Helene
Mareike gab mir den Brief. »Dein Vater hat endlich einen Namen.«
»Ja, sieht wohl so aus.« Meine Mutter hat nie ein Wort über meinen Vater verloren. Wenn ich als Kind nachgefragt habe, winkte sie immer lächelnd ab. Nicht mal als Erwachsene hat sie mir etwas über ihn erzählt. Und ich habe schon über die Hälfte meines Lebens gelebt. Ich bin jetzt im einundfünfzigsten Lebensjahr.
»Schau mal, Andrea. In der Kiste sind noch weitere Sachen. Ein Schlüsselanhänger und ein Ring.«
»Ein Ring?« Ich faltete den Brief und steckte ihn zusammen mit dem Foto in den Umschlag zurück. Ich fühlte mich schlecht. In den persönlichen Sachen meiner Mutter zu wühlen fühlte sich an, als würde jemand in meinen Kindertagebüchern lesen.
»Ich denke, wir sollten die Sachen wieder zurücklegen.«
»Wieso denn?« Mareike blickte mich mit großen Augen an.
»Das sind die Sachen meiner Mutter.«
»Ja, sie ist aber gestorben. Mein Beileid, aber es sind jetzt deine Sachen.« Mareike zuckte mit den Achseln. Sie hatte wirklich kein Feingefühl, denn schon wieder stieß sie mir einen Dolch ins Herz. Meine Mutter hatte Mareike gemocht, mir aber immer zur Vorsicht geraten. Wie bei jeder Freundin. Ich schüttelte den Kopf.
»Warum schüttelst du jetzt den Kopf? Es sind deine Sachen und dadurch, dass deine Mutter gestorben ist, besteht eine geringe Chance, deinen Vater zu finden.«
»Geh bitte.« Mit dem Zeigefinger wies ich zur Wohnungstür.
»Was, was ist denn jetzt los mit dir?« Mareike legte das Buch zurück und stand auf.
»Ich möchte, dass du gehst. Ich brauche Zeit für mich.« Mit der Hand wischte ich mir die feuchten Augen trocken.
»Du hast doch einen Knall! Ich wollte dir nur helfen.« Mareike verließ die Wohnung. Ich setzte mich von innen gegen die Tür und fing an, bitterlich zu weinen.
Nachdem alle Tränen vergossen waren und ich mich wieder gefangen hatte, robbte ich zum Karton zurück.
Es war schwer, die Sachen meiner Mutter zu durchwühlen. Ich atmete noch einmal tief aus. Kein Wunder, dass ich mir die Wohnung bis zum Schluss aufgespart hatte. Die Erinnerungen, die sich mit diesen Räumen verbanden, waren einfach zu stark und zu schmerzhaft. Ich stellte den Karton an die Wand und machte mich wieder an die Arbeit.
Als sich der Tag dem Ende neigte, die Sonne sich verabschiedete und der Wind allmählich zunahm, suchte ich meine Sachen zusammen und verließ die Wohnung. Morgen würde ich noch einmal mit dem Vermieter Rücksprache halten und einen Termin für die Wohnungsbesichtigung ausmachen. Außerdem hatte ich mir eine Firma aus dem Internet herausgesucht, die Möbel, Hausrat und Bekleidung abholte, um sie für wenig Geld an hilfsbedürftige Menschen zu verkaufen.
Natürlich hatte ich mir einige Erbstücke herausgesucht und einen kleinen Umzugskarton damit vollgepackt. Diesen aus dem zweiten Stock nach unten zu schleppen war schon ein ganz schönes Stück Arbeit und dann hatte ich noch nicht einmal einen Parkplatz vor der Tür. Ich stellte deshalb den kleinen Karton vorübergehend vor der Wohnungstür ab.
Als ich den Karton später holte, blieb ich vor Mareikes Wohnungstür stehen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Sollte ich mich entschuldigen oder ihr lieber nachher eine WhatsApp schreiben? Kurzentschlossen klopfte ich zweimal und wartete nervös. Wie immer schrie Mareike von innen, dass sie kein D-Zug sei und schlurfte zur Tür. Als sie mich sah, sagte sie nichts, sondern blickte mich nur erwartungsvoll an.
»Hey«, sagte ich mit schlechtem Gewissen. Ich biss mir wieder auf die Unterlippe. Eine meiner schlechten Angewohnheiten.
Mareike legte den Kopf schief.
»Das vorhin, ich wollte das nicht, aber das ist alles noch so frisch, und ich weiß nicht, was ich machen soll.« Ich versuchte, die Tränen herunterzuschlucken, doch sie kamen unaufhörlich.
»Ach, Schätzchen. Komm.« Mareike breitete ihre Arme aus, und ich ließ mich hineinfallen.
Eine halbe Stunde später saß ich bei Mareike auf der Couch. Meine Hände um einen Becher heißen Kakao geschlungen und den Karton neben mir.
»Geht´s dir besser?« Mareike hatte es sich mir gegenüber auf einem Sessel bequem gemacht.
»Ja, danke. Ich bin im Moment voll neben der Spur.«
»Dann lass dich doch noch eine Woche krankschreiben. Du siehst auch nicht gut aus. Außerdem waren die Zeugniskonferenzen doch schon.« Mareike rückte ihre Brille auf der Nase zurecht.
»Ich weiß nicht. Ich habe noch so viel vorzubereiten. Sicherlich wurde schon über mich geredet.«
»Ich glaube, du hast Halluzinationen. Das stimmt nicht. Sie haben nach dir gefragt, aber das Lehrerkollegium hat Verständnis für deine Situation und wünscht dir alles Gute. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Ja, aber ich denke, dass mich die Schule etwas ablenkt. Ich muss für die Abschlussfahrt im August noch Vorbereitungen treffen. Eltern anrufen, mit dem Hotel in Northumberland telefonieren.«
»Ach ja, du fährst ja mit deiner Klasse nach England.« Mareike lächelte und streckte die Arme nach dem Karton aus. »Darf ich?«
»Ja.«
Ich beobachtete, wie Mareike den Brief für Clark Owen aus dem Karton nahm und mir die Vorderseite zeigte.
»Ja? Was ist denn?« Ich zog unwissend die Augenbrauen hoch.
»Na, lies mal die Adresse.« Sie wedelte mit dem Umschlag.
»Halt doch still, so kann ich gar nichts lesen.« Ich griff nach dem Kuvert.
»Clark Owen, 21 A Soho Square, London W1D 4NR, United Kingdom«, las ich. »Und?« Was wollte sie von mir?
»Na ja, dein Vater wohnt in England.« Erneute wedelte sie mit dem Umschlag herum.
»Ja, das habe ich verstanden.« Langsam kam ich mir ein bisschen kindisch vor. Natürlich wusste ich, was Mareike mir damit sagen wollte.
»Du könntest ihn im August besuchen.«
»Natürlich. Er freut sich sicher sehr, mich zu sehen, wenn ich zwanzig Kinder im Schlepptau habe.« Ich musste schmunzeln. Langsam entspannte ich mich ein wenig.
»Mm, er soll dich doch so kennenlernen, wie du bist.« Mareike legte den Brief auf den Tisch, der zwischen Couch und Sessel stand und setzte sich bequem in den Schneidersitz.
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