Der offene Sarg.
Der Leichenbestatter hatte es irgendwie geschafft, die Wangen plastisch wirken zu lassen. Steckte da etwa Watte unter der Haut seines toten Vaters? Watte, die sich mit Verwesungsflüssigkeit vollsaugt? Aber das ist nicht alles.
Die Farbe.
Bei der Besprechung hatte der Bestatter immer wieder betont, wie dezent man seinem Vater schminken würde, um ihm »ein lebendiges Aussehen« zu geben. Das hatte der Mann tatsächlich gesagt.
»Lebendiges Aussehen«
Robert Denker hatte ausgesehen, als hätte ein Grundschüler sein Gesicht mit Wachsmalstiften angemalt.
Maxim öffnet die Augen. Der Blick wandert zur Nachttischschublade. Eventuell wäre es klug, mit seinem Leben endgültig aufzuräumen. Wenn sich die Erde noch nicht gesetzt hat, ist es ein Leichtes, das Grab zu erweitern.
Seine Mutter würde ganz zerbrechen. Ihren beiden Männern folgen. Und wer würde dann sie begraben?
Schlechte Idee.
Mit einem Ruck setzt er sich auf. Der dritte Whiskey war zu viel. Maxim stürmt in das Bad und bedeckt seine Krawatte mit einer Schicht seines Mageninhalts. Im Orangeton seines Erbrochenen wirkt der schwarze Strich wie eine Mahnung. Sie ist eine Faser des Todes. Eine tote Ader, die sich durch sein Innenleben zieht. Abgestorbenes Gewebe.
Er kann es nicht ansehen. Maxim drückt die Spülung. Alles verschwindet in einem wilden Strudel.
Der Fußboden ist kühl. Angenehm auf seiner heißen Haut. Der Anzug spannt. Maxim zieht ihn sich aus und wirft ihn in die Wäschebox. Bis auf die Unterhose und das Unterhemd ist er nackt. Seine Ferse hat aufgehört zu bluten.
Die Tränen kommen still und ungehemmt. Auf dem Fliesenboden sammeln sie sich zu zwei kleinen Pfützen. Maxim bleibt eine Weile im Bad und weint sich den Whiskey aus den Augen.
03:37 auf der Bad-Uhr.
Das Leck versiegt. Maxim steht auf und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Das tut gut und macht seine Gedanken klar. Er friert.
Maxim geht zurück ins Schlafzimmer, zieht sich seinen Bademantel und Hausschuhe an und wandert ins Wohnzimmer. Hinter seinen Augen pocht es unaufhörlich. Aber er weiß, dass er Schlaf bis zum Morgengrauen vergessen kann.
Er verbraucht seine letzte Kraft, als er die Scherben des Glases zusammenkehrt, das Telefon in den Restmüll schmeißt und die betupfte Wand mit einem Geschirrtuch bearbeitet und reinigt.
Danach legt er sich auf Sofa. Er spielt mit dem Gedanken, Tabea zurückzurufen, sich für seinen Wutausbruch zu entschuldigen. Kurz bevor er die Nummer wählt, kommt er zur Besinnung. Statt es gegen die Wand zu schleudern, schaut er auf die Uhr und legt es neben sich.
04:52.
Eigentlich könnte er sich an seine Morgenroutine machen. Müsli, Rasieren, Zähneputzen, Duschen. Stattdessen legt er sich auf das Sofa und betrachtet das Erbstück seines Vaters. Ein altes Röhrenradio mit einem Gehäuse aus Bakelit. Es hat die Farbe von Staub und dunklem Ostseebernstein. Wenn man es anschaltet, leuchtet ein magisches Auge. Als Maxims Vater es von seinem Vater geerbt hat, hat es nicht mehr funktioniert. Robert Denker hat einen Spezialisten aufgespürt und das Auge reparieren lassen.
Mit diesem Radio hatte Maxims Großvater während des Zweiten Weltkrieges US-amerikanische Radiosender gehört. Feindsender. Das hätte ihn damals das Leben kosten können.
Irgendetwas treibt Maxim zu dem Radio.
Die große Antenne nimmt den meisten Platz auf der Fensterbank ein. Ohne sie würde das Radio heute nichts mehr empfangen. Andere elektrische Geräte stören die antiken Kondensatoren.
Aber es funktioniert bis heute. Robert Denker war das zu Lebzeiten ein wichtiges Anliegen gewesen.
Maxim steckt das Radio ein und dreht es an. Das magische Auge erweckt zum Leben. Hinter der Glaslinse brennt grünes Feuer.
Nichts als Rauschen.
In der Hoffnung, den Empfang verbessern zu können, steckt Maxim alle elektrischen Geräte aus. Den Fernseher, die Station des Telefons, die Stehlampe. Das Morgenlicht und das magische Auge spenden genügend Licht zum Sehen. Er dreht an den Reglern, sucht nach Stimmen im Äther und findet eine Radiostation, die seichten Jazz spielt.
Saxophon, Klavier, Schlagzeug. Ein sanfter Rhythmus. Maxim lächelt. Sein Vater hatte gerne Jazz gehört. Musik, die erst durch ihre Spontanität originell wird.
Ein Akkordeon mischt das Trio auf.
Bilder seines Vaters übermannen Maxim. Er hat gedacht, er hätte für den heutigen Tag schon genügend Tränen vergossen. Aber da hat er sich getäuscht. Die Tränen befreien ihn von den Kopfschmerzen, den Schuldgefühlen, der Trauer.
In diesem Moment ist Maxim seinem Vater nah. Er kann es spüren.
Mit einem freien Geist schläft Maxim ein. Er schnarcht. Verspannungen in seinem Kopf beginnen, sich zu lösen.
Ich bin bei dir
Es war Susannes größte Angst.
Sie sperrte sie in einen Käfig, wie es sich für ein rasendes Biest gehörte, aber die Pranken der Bestie fuhren einfach zwischen den Gitterstäben hindurch und zerschnitten ihr Herz. Je mehr Roland und Susanne zusammenwuchsen, umso wilder wurde das Biest. Sprachen Paare über so etwas? Über diese Angst.
»Was ist, wenn einer von uns beiden stirbt?«
Als die Angst noch klein war, hatte Susanne sie für ein harmloses Schreckgespenst gehalten. Eine schwarze Katze, die nur bei Nacht erschien und die nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters gekommen war und seitdem in ihrem Herzen Sorgen an den Schwänzen herbeizog wie Mäuse. Das ständige Gefühl, das einen glauben lässt, dass sich hinter jeder Ecke ein Monster lauert, das nur darauf wartet, in einem Augenblick der Unachtsamkeit zuzuschlagen und einen vom Angesicht der Welt zu tilgen. Und letzten Endes war es doch genau so gewesen. Ihr Monster hatte Roland verschlungen und es fett und gierig gemacht.
Vor neun Monaten hatte Roland in einem Hotelzimmer um Susannes Hand angehalten und sie hatte »ja« gesagt. Danach hatten die beiden aus einer Laune heraus und mit nichts mehr als Helium im Kopf einen Spaziergang gemacht: Um 1 Uhr nachts, unter einem klaren Sternenzelt und zwei Stunden, bevor sie sich mit Nachtgedanken gefüllten Köpfen ins Bett jagten und die fremden Laken mit heißem Schweiß benetzten.
Es folgte eine fünfmonatige Periode des Blindflugs. Susanne stürzte sich sofort in die Hochzeitsvorbereitungen, während Roland sich auf das neue Schuljahr vorbereitete. Mit jedem Haken, den sie auf ihrer Liste setze, wuchs die Katze, bis Susanne schließlich eines Nachts schweißgebadet aufwachte, gebissen von dem verdammten Miststück – und Traum nicht mehr von Realität unterscheiden konnte. Sie hatte geträumt, dass Roland gestorben war. Doch Susannes Verlobter schlief ruhig neben ihr, laut atmend, unbekümmert. Er hatte Susannes verkniffenen Schrei nicht gehört. Das Bild ihres zukünftigen Mannes in dieser privatesten aller Situationen brannte sich ein. Das merkte Susanne erst viel später bei der Beerdigung. Nie war der Mensch verletzlicher als im Schlaf und vielleicht schlug deswegen der Tod genau dann so gerne zu. Susannes Vater war mit 45 gestorben, gerade als er begonnen hatte, in seinen prächtigsten Farben zu schillern. Seit seinem Tod war Susannes Mutter ergraut.
Roland starb bei einem Autounfall. Nicht im Schlaf, nicht friedlich. Dafür musste er nicht lange leiden. Das Monster hatte ihn in einem Happen verschlungen, noch bevor der gute Zauber des gemeinsamen Schwurs das Biest eventuell vertrieben hätte.
Die Hochzeitsvorbereitungen rückgängig zu machen war nicht schwierig gewesen. Susannes Mutter half ihr dabei, mit all den Erfahrungen, die sie bei der Organisation der Trauerfeier ihres Mannes gemacht hatte. Der Schock über Rolands gewaltsamen Tod saß tief. Sämtliche Gäste – Wegbegleiter, Freunde, Familie – erschienen statt in bunten Farben in einheitlich unfarbiger Garderobe. Manche unterstützten Susanne und Rolands Familie bei den Angelegenheiten, die mit einem plötzlichen Tod einhergingen.
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