Doch die Wölfe preschten an ihnen vorbei, ihren durch dunkle Zauberkraft verderbten Vettern entgegen. Dem Rudel folgte ein einzelner Mann, von seiner einfachen, praktischen Kleidung her ein rumänischer Schäfer. Doch in seinen Händen hielt er ein großes, langes Schwert, in dessen Klinge grüne Juwelen in einem verschnörkelten Muster eingelassen waren. Sie begannen zu glühen, und ein Blitz sprang von der Klinge fort, traf einen der Schattenwölfe und tötete das Ungeheuer mit einem Schlag.
»Ein Simanui!«, rief Jane begeistert und begann zu lachen. »Wir sind gerettet! Endlich tun diese Zauberer einmal was!«
Die Ankunft eines Ritters des Lichts schien auch den Bestiengeneral zu überraschen. Unter seiner schwarzen Kutte zog er nun seinerseits ein Schwert hervor und wich zum Waldrand zurück, während seine Schattenwölfe ihren irdischen Artgenossen entgegensprangen.
Den Rest der Schlacht bekam Jane nicht mehr mit. Jemand packte sie an der Schulter und stieß sie durch den magischen Torbogen.
Die Welt um sie veränderte sich schlagartig. Von einer Sekunde auf die nächste befand sie sich nicht mehr auf jener Lichtung in den Karpaten, sondern auf einem kalten, tristen Festungshof, umgeben von uralten Mauern. Menschen in dicken Kutten saßen im Kreis auf dem Boden, wärmten sich die Hände an einem kleinen Lagerfeuer. Kinder rannten über den Hof und spielten Fangen.
Als sie die drei Neuankömmlinge bemerkten, die soeben aus dem Torbogen der Illauri traten, schreckten alle im Hof auf.
»Sie ist zurückgekehrt«, keuchte eine alte Frau. »Die Seelenkönigin ist zurückgekehrt!«
Gespenstische Ruhe kehrte ein. Jane biss sich auf die Lippe. Was nun wohl geschehen würde?
Still erhoben sich die Menschen von ihren Ruheplätzen. Mütter nahmen ihre Kinder in die Arme und verbargen sie eilig vor dem Antlitz der bleichen Königin. Jane sah, wie selbst die größten und kräftigsten Männer die Köpfe neigten und die Blicke senkten, als fürchteten sie, dem Glosen in den Augen der Dämonin zu begegnen. Das eben noch herrschende Leben auf diesem kalten, finsteren Hof verwandelte sich mit einem Mal in eine bedrückende Stille. Die Angst war überall zu spüren, greifbar wie nichts sonst; eine grausame, stille Furcht vor jener schwarzen Königin. Jane schaute Veyron vorwurfsvoll an. Wo hatte er sie da nur hingebracht? Doch Veyron blieb wie üblich äußerlich ganz gelassen.
Schwarz uniformierte Wachen eilten herbei. Als sie näher herankamen, erkannte Jane, dass trotz ihres zackigen Schritts ihre Augen trüb waren, der Blick starr geradeaus gerichtet. Rücksichtslos stießen sie alle Menschen zur Seite, die ihnen im Weg standen, und hoben ohne ein Wort die verletzte Seelenkönigin auf ihre Arme und trugen sie fort. Niemand nahm Anteil an ihrer Verwundung, niemand blickte ihr hinterher. Allerdings wagte sich auch niemand zu freuen. Still und bedrückt zogen die Menschen von dannen, ließen Veyron und Jane allein unter dem Torbogen stehen.
Wir sind am Hof einer verhassten Tyrannin gelandet , erkannte Jane entsetzt. Konnte es sein, dass Veyron diesmal einen fatalen Fehler begangen hatte?
Als sich Tom vollkommen übermüdet aus dem Bett quälte und den Weg von seinem Dachspeicherzimmer nach unten in die Küche nahm, war es bereits später Nachmittag. Von Veyron war weder etwas zu hören noch zu sehen. Eine seltsame Stille herrschte im ganzen Haus. Für gewöhnlich marschierte sein Pate um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer auf und ab, oder es dröhnte laute Musik durch alle Zimmer.
In der Küche angekommen fand Tom einen kleinen, sauber gefalteten Zettel auf dem Tisch. Veyron hatte mit dem Kugelschreiber eine Nachricht hingekritzelt.
Entschuldige, Tom, ich fürchte, ich vermag der Versuchung nicht zu widerstehen. Ich zitiere an dieser Stelle Martin Luther: »Hier stehe ich und kann nicht anders.« In ein paar Wochen sehen wir uns wieder. Für dein Auskommen ist gesorgt. Mrs. Fuller weiß Bescheid. Halte die Ohren steif.
V. S.
»Du Vollidiot, du Riesenarschloch!«, schimpfte Tom seinen nicht anwesenden Paten aus, zerknüllte den Zettel und schleuderte ihn mit aller Kraft durch die Küche.
Veyron war dieser elenden Seelenkönigin doch tatsächlich auf den Leim gegangen. Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Was sollte er jetzt tun? Ich werde auf der Stelle nach Elderwelt aufbrechen , entschied er. Sofort eilte er hinauf in sein Zimmer, packte Jacke, feste Schuhe, ein paar Ersatzhosen und T-Shirts zusammen und stopfte alles in seinen Rucksack. Ganz gleich, was er letzte Nacht zu Veyron gesagt hatte, niemals würde er seinen Paten allein nach Elderwelt reisen lassen – in ganz offensichtliche Gefahr.
Sein Smartphone piepte, schnell nahm er es zur Hand. Eine Nachricht von Jane.
Fahren jetzt durch Belgien. Veyron und mir geht’s gut. Seine Klientin macht mir echt Angst. Ich werde aufpassen.
LG, Jane
Tom klatschte die Hand an die Stirn und stöhnte entnervt. Veyron hatte Jane bequatscht, dass sie ihn begleitete. Na, immerhin war er nicht allein. Jedoch war Jane mit Elderwelt und seinen Gefahren so gut wie gar nicht vertraut. Diese Tatsache festigte Toms Entschluss, sofort nach Elderwelt aufzubrechen. Jane und Veyron brauchten seine Hilfe.
Plötzlich klingelte es an der Haustür.
»Das nicht auch noch. Ich habe weder Zeit für Mrs. Fullers Geschwafel noch für irgendwelche Klienten, die Veyron einbestellt hat. Oder gar für Inspektor Gregson, der noch ein paar Fragen hat«, murrte er. Es klingelte wieder. Aufgebracht warf er seinen Rucksack hinaus in den Flur und stürmte nach unten. Wer immer es war, er würde ihn abwimmeln. Als er die Haustür aufriss, hatte er sich schon die passenden Worte zurechtgelegt. Doch nun stutzte er überrascht.
Zwei junge, sehr attraktive Mädchen standen vor der Tür, beide im selben Alter wie er selbst, zwei wahrhaftige Schönheiten. Die umwerfende, aufregende Lilly Rodgers – und die nicht weniger bezaubernde Vanessa Sutton. Zwei wahre Engel, Lilly brünett, Vanessa blond; die beiden begehrtesten Mädchen an der ganzen Schule – mit nur einem Makel. Und der lautete Vanessa.
Ausgerechnet Vanessa, ebenso attraktiv wie durchtrieben! Das Mädchen, welches er am wenigsten leiden konnte, stand auf seiner Schwelle. Sie hatten mal was miteinander gehabt, sie und Tom. Es war nicht gut ausgegangen. Das Biest hatte ihn hintergangen – mit gleich zwei anderen Typen. Einer davon war ausgerechnet Lillys vor Arroganz platzender Bruder Stevie gewesen.
»Hi, Tom«, begrüßte sie ihn etwas verlegen.
Tom schüttelte den Kopf. Vanessa Sutton ! Allein ihr Anblick trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. »Dafür hab ich keine Zeit«, schnappte er und wollte die Tür schon zuschlagen.
Doch Lilly Rodgers trat ihm einen Schritt entgegen, packte die Tür und stemmte sich dagegen. Deutliche Anspannung stand ihr im Gesicht. »Oh bitte, Tom«, flehte sie, »wir müssen mit deinem Onkel reden. Wir brauchen seine Hilfe.«
Er holte tief Luft, um den beiden zu sagen, dass sie ein andermal kommen müssten. Aber dann schaute ihn Lilly aus ihren einzigartigen, großen, grünblauen Augen flehentlich an.
»Es ist wirklich dringend. Es geht um Ernie. Nur dein Onkel kann uns noch helfen«, sagte sie. So wie ihre Stimme dabei klang, schien sie es ernst zu meinen.
Erst jetzt fiel Tom auf, dass Vanessa verunsichert auf ihrer Lippe kaute und regelrecht aufgewühlt wirkte. Da war eindeutig etwas im Gange. Okay , dachte er. Elderwelt kann noch zehn Minuten warten. Aber keinesfalls länger! »Veyron ist nicht da«, grummelte er, während er zur Seite trat, damit die beiden Mädchen ins Haus konnten. Wütend warf er die Haustür hinter ihnen zu. Wehe, wenn er seine Zeit mit diesen dummen Zicken verschwendete, während Veyron und Jane seine Hilfe brauchten!
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