Jane empfand tiefes Mitleid mit den wolligen Tieren, als sie auf der anderen Seite wieder über das Gatter ins Freie kletterte. Bedauerlicherweise gab es keinen anderen Weg, die Bestien abzuhängen und das eigene Leben zu retten, als die Schafe zu opfern. Wenn sie doch nur eine Pistole mitgenommen hätte …
Ein wildes, unmenschliches Brüllen schallte durch die Luft, und ein schwarzer Schatten fegte über das Schafsgatter hinweg. Jane erkannte den Bestiengeneral, der einer gigantischen Fledermaus gleich durch den Himmel segelte und seinen Wölfen Befehle gab. Im Nu stellten die abscheulichen Kreaturen den Angriff auf die Schafe ein und hetzten wieder hinter Veyron und Jane her.
»Scheiße«, fluchte Jane und beeilte sich, Veyron einzuholen, der bereits den Rand des nahen Waldes erreicht hatte.
Der erste der Schattenwölfe sprang schon über das Gatter, die Zähne gefletscht. Er bellte heiser. Endlich erreichte auch Jane den Wald, wo Veyron ungeduldig auf sie wartete. Gemeinsam hasteten sie jetzt durch das Gebüsch, sprangen über Wurzeln und Farne, Äste peitschten ihnen ins Gesicht, Sträucher und Zweige rissen an ihrer Kleidung. Hinter ihnen stürmten unter Gebell und Geheul die Schattenwölfe in das Dickicht.
»Da lang, ich habe den Ausweg gefunden«, rief Veyron, schnappte Jane am Handgelenk und zog sie in eine bestimmte Richtung.
Ohne genau hinzusehen, folgte sie Veyron. Sie benötigte ihre ganze Konzentration, um nicht an Wurzeln hängen zu bleiben. Das Unwetter hoch über ihnen ließ es in dem Wald beinahe so finster sein wie in der Nacht.
Plötzlich türmte sich vor ihnen eine Felswand auf, so hoch, dass an ein schnelles Erklettern nicht zu denken war. Erst jetzt schaute sich Jane an, wo sie überhaupt waren, nur um festzustellen, dass sie die ganze Zeit einer Schlucht gefolgt waren.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, rief sie aufgeregt. »Veyron, das ist eine verdammte Sackgasse!«
»Exakt«, sagte Veyron nur. Er hatte den Rucksack abgenommen und kramte darin herum. Schließlich brachte er einen seltsamen Gürtel und eine Pistole zum Vorschein. Ohne Jane etwas zu erklären, schnallte er den Gürtel um und nahm die Pistole in beide Hände. In der Nähe erklang schon das Knurren eines Schattenwolfes. Vor ihnen leuchteten rote Augen in der Dunkelheit.
»Schießen Sie!«, herrschte sie Veyron an, der mit einer unbegreiflichen Seelenruhe einfach nur dastand. Gelassen schulterte er seinen Rucksack, dann erst zielte in die Luft und feuerte. Der Schuss ließ die Schattenwölfe zögern. Schritt für Schritt trabten sie jetzt heran. Sie hatten ihre Beute ja in der Falle, ein Entkommen war unmöglich.
»Was tun Sie da? Schießen Sie nicht in die Luft, schießen Sie auf diese Mistviecher!«, heulte Jane verzweifelt.
Veyron packte sie an der Hüfte und presste sie grob an sich. »Festhalten«, sagte er.
Dann erklang ein leises Sirren, und eine unsichtbare Kraft zog sie beide in die Luft. Jane ertastete mehr, als sie es sah, ein Stahlkabel, das mit Veyrons Gürtel verbunden war, und dann begriff sie: Er hatte einen Greifhaken in die Baumkronen geschossen, der mit einer kleinen Seilwinde auf der Rückseite des Gürtels verbunden war.
»Ich wollte diese Ausrüstung schon lange erproben«, meinte er, und sie konnte sein selbstgefälliges Grinsen beinahe hören.
Sie war allerdings zu verängstigt und panisch, um darüber zu staunen. Die Reise durch die Luft ging viel zu langsam vonstatten, und die Schattenwölfe stürmten nun bellend heran. Sie sprangen hoch, versuchten, ihre flüchtende Beute zu fassen. Veyron und Jane mussten um sich treten, um die Bestien auf Abstand zu halten. Als sie merkten, dass sie so nicht an ihre Beute herankamen, versuchten die Monster, die steilen Felswände zu erklimmen, doch sie rutschten von den glatten Steinen immer wieder ab. Veyron hielt die Felsen mit ausgestrecktem Arm auf Abstand, während sie Meter für Meter nach oben gezogen wurden, damit sie nicht dagegen pendelten. Jane klammerte sich fest an Veyron, um nicht ebenfalls abzurutschen und den Schattenwölfen doch noch zur Beute zu werden. Sobald sie sich jedoch der Kante der Schlucht näherten, dirigierte Veyron sie aus den Baumkronen heraus. Mühsam krabbelte Jane mit seiner Hilfe über den Grat und blieb einen Moment keuchend liegen, bevor sie Veyron ihre Hand reichte und auch ihn hochzog. Kaum hatte er den ebenen Waldboden erreicht, löste Veyron die Seilwinde vom Gürtel und fischte zwei runde Gegenstände aus seiner Jackentasche.
Jane wich zurück. »Handgranaten!«, rief sie erschrocken.
Mit den Zähnen zog Veyron die Splinte ab und warf die beiden Granaten in die Schlucht, hinunter zu den Schattenwölfen. Zwei Explosionen erklangen, begleitet von lautem Jaulen und Winseln. Zufrieden blickte Veyron über den Rand nach unten.
»Vier erwischt, drei sind noch übrig. Aber wir haben ein paar Minuten Vorsprung, ehe die Bestien wieder auf unserer Spur sind. Los jetzt, wir müssen zu diesem Durchgang gelangen«, sagte er.
Sie rannten weiter, folgten einem Trampelpfad, der mal steil nach oben, dann wieder ebenso steil nach unten führte, ehe sie aus dem verfluchten Wald herauskamen. Endlich befanden sie sich auf jener Lichtung, von der die Seelenkönigin gesprochen hatte. Jane atmete erleichtert auf, während sie auf den Torbogen zu hetzte.
Anders als der Durchgang nach Elderwelt, den sie bisher kennengelernt hatte, bestand dieser hier nicht aus Stein. Zwei uralte Bäume, nebeneinander hochgewachsen, hatten sich auf einer Höhe von vier Metern vereinigt und ihre gewaltigen Stämme ineinander verdreht, sodass darunter ein Torbogen entstanden war.
»Haben Sie denn Ihren Erlaubnisstein dabei?«, keuchte Jane angestrengt, als sie den Durchgang schließlich erreichten. Ohne diese magischen Steinchen war es nicht möglich, nach Elderwelt zu gelangen. Sie könnten durch den Torbogen hin und her springen, wie sie wollten; ohne einen Erlaubnisstein blieb ihnen die Magie Elderwelts versagt.
»Nein, den hat Tom in seinem Geldbeutel«, sagte Veyron und blickte hoch in den Himmel.
Als wäre dies ein Stichwort gewesen, stürzte die Seelenkönigin aus der Luft und landete hart auf dem Boden. Mit einem schmerzerfüllten Schrei brach sie zusammen. Ihre schwarzen Flügel verwandelten sich wieder in die riesige Schleppe, die sie nun wie ein Leichentuch einhüllte. Veyron rannte zu ihr, Jane atmete tief durch und folgte ihm. Wie sich herausstellte, war die Seelenkönigin schwer verwundet, schwarzes Blut lief aus einer klaffenden Wunde an ihrer Hüfte. Der Bestiengeneral hatte sich also als der geschicktere Kämpfer erwiesen.
Und da war er auch schon. Mit einem triumphierenden Grinsen auf seinem Monstergesicht landete er am Rand der Lichtung, und zu seinen Seiten erschienen seine drei verbliebenen Schattenwölfe. Jane und Veyron halfen der Seelenkönigin auf die Beine, stützten sie und schleppten sie in Richtung des Durchgangs.
»Euren Erlaubnisstein, Mylady«, meinte Veyron mit herzloser Kälte.
Die Dämonin griff unter ihr schwarzes Gewand und brachte einen feuerroten Kieselstein zum Vorschein. Veyron nahm ihn fest in die Faust. Jane blickte zum Bestiengeneral und seinen Monstern, die sich aufteilten und nun von allen Seiten auf sie zukamen. Jegliche Flucht schien aussichtslos.
Plötzlich erklang von der anderen Seite der Lichtung lautes Heulen, kräftiger und gesünder klingend als das der Schattenwölfe. Jane blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als sie sah, was nun geschah. Ein ganzes Rudel Wölfe war aufgetaucht – als würden die Monster des Schattens nicht schon genügen. Mit gefletschten Zähnen und nach hinten gerichteten Ohren stürmten sie über die Lichtung, genau auf Jane und Veyron zu.
Dann ist es also soweit , dachte sie voll Bitterkeit. Von wilden Bestien zerfetzt. Danke, Veyron Swift. Was für ein grandioses Ende!
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