»Hör auf damit, Junge!«, fuhr ihn einen Moment später eine helle Stimme durch die Sprechanlage an. »Sieh zu, dass du verschwindest, und nimm deine dumme Freundin mit!«
Tom war zu verdutzt, um sofort zu reagieren. Mit Veyron Swift auszukommen, war bisweilen schon nicht leicht, doch sein Bruder erwies sich als geradezu feindselig. »Mr. Wimille Swift?«, fragte er vorsichtig.
Ein wütendes Schnauben kam zur Antwort. »Ich buchstabiere es für dich: H. A. U. A. B. Hau ab! Verschwinde! SOFORT!«, donnerte es aus der Sprechanlage.
»Sir, ich bin Tom Packard, und …«
»Ich ruf die Polizei, wenn …«, brüllte die Stimme hysterisch und brach dann plötzlich ab.
Einen Moment lang hörte Tom nur ein gleichmäßiges Atmen durch die Sprechanlage. Verwundert drehte er sich zu Vanessa um, die ihn aus großen, entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte.
»Lass uns verschwinden. Der Typ ist ein Irrer«, jammerte sie halblaut.
Tom schüttelte den Kopf – auch wenn sie vermutlich recht hatte.
Im nächsten Moment summte der Öffner. Vorsichtig schob Tom die Tür ein wenig auf, ehe er es wagte, sie ganz aufschwingen zu lassen und in den Flur zu treten. Vanessa folgte ihm eingeschüchtert. Hinter ihnen schloss sich die Tür wieder von allein, ein Klacken kündete von einer elektronischen Verriegelung. Die Lichter im Treppenhaus sprangen flackernd an und leuchteten ihnen den Weg nach oben. Langsam, beinahe ehrfürchtig, nahm Tom die Stufen.
Im ersten Stock öffnete sich eine weitere Tür mit elektronischem Schloss, und sie traten in eine finstere, spartanisch eingerichtete Wohnung. An einem dunklen Tisch saß eine schlanke, ausgemergelte Gestalt, kleiner als Veyron und weit weniger sportlich. Wimille Swift wirkte gut und gerne zehn Jahre älter als sein Bruder. Seine dunklen Locken waren von Silber durchzogen und wichen an der Stirn schon deutlich zurück, wo sie ausgeprägte Geheimratsecken hinterließen. Zumindest die scharfe Adlernase hatte Wimille mit Veyron gemein. Tom fand, dass sie bei Wimille sogar noch markanter wirkte –, und natürlich besaßen beide den gleichen durchdringenden Blick aus eisblauen Augen.
Wimilles dünne Lippen verzogen sich zu einem schüchternen Lächeln, als Tom näher trat. Unsicher und nervös spielte der Mann mit seinen Fingern und rieb zugleich mit den Schuhen aneinander. »Tatsächlich, es stimmt«, sagte er mit schüchterner Freude. »Dieselben Augen wie Susan, auch die Wangenpartie ist ihrer ähnlich. Veyron hat nicht gelogen, seine Beschreibung war wie üblich sogar überaus exakt. Vergib mir, Tom, ich hatte es bezweifelt.« Überaus agil sprang Wimille auf und kam um den Tisch herum, um Tom zu begrüßen.
Auch Vanessa trat langsam näher, doch Wimille schenkte ihr nur ein kommentarloses Nicken.
»Ja, du bist wahrhaftig Susan Evans’ Sohn, mein Junge. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen und …«, fuhr Wimille fort, doch plötzlich stockte er, holte tief Luft und wandte sich ab.
Tom bemerkte, wie Veyrons Bruder kurz die Fäuste ballte, ehe er sie wieder entspannte. »Mr. Swift, ich komme, weil ich Ihre Hilfe benötige. Wir haben ein kleines Problem, und ich hörte von Veyron, dass Sie gewissermaßen ein Genie sind, und …«, begann er zu erklären.
Wimille fuhr zu ihm herum, die schmalen Lippen zusammengepresst, ehe er wieder zu lächeln begann. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, meine Junge. Selbstverständlich stehen dir meine Dienste zur Verfügung. Geht es um die junge Dame da? Soll ich sie hinauswerfen?«
»Was?«, entfuhr es Tom schockiert. »Nein, das ist nur Vanessa«, sagte er. Im gleichen Augenblick spürte er ihren Ellbogen in seiner Seite. »Autsch! Sie ist meine Klientin. Ihr Freund ist verschwunden, und wir versuchen, ihn aufzuspüren. Wir haben aber keine Adresse, sondern nur eine Nachricht von ihm. Ich dachte, sie wären vielleicht in der Lage, das Handy ihres Freundes zu orten.«
Wimille warf Vanessa einen forschenden Blick zu. Plötzlich wirbelte er auf den Absätzen herum und eilte ins nächste Zimmer. Zögernd folgten ihm Tom und Vanessa. Sie fanden ihn in einem kleinen, fensterlosen Raum, dessen Wände mit Bildschirmen gepflastert waren. Auf einem runden Tisch waren mehrere Tastaturen aufgestellt. Zahlencodes rasten die Bildschirme rauf und runter, und Vanessa pfiff entgeistert durch die Zähne, als sie das alles sah.
»Was machen Sie beruflich? Arbeiten Sie beim Geheimdienst?«, fragte sie.
Tom sah ihre Augen vor Staunen regelrecht leuchten. Wimille schien sie gar nicht zu bemerken, sondern setzte sich an den Tisch und streckte ihr seine Hand entgegen. Vanessa sah Tom verunsichert an, doch er nickte ihr aufmunternd zu und gab ihr zu verstehen, dass sie Wimille ihr Smartphone geben solle. Eifrig zog Vanessa es aus der Tasche und gab es dem Bruder Veyrons. Wimille entfernte sofort den Deckel, und mit einer Geschwindigkeit, die Tom kaum verfolgen konnte, entnahm er den Akku und sämtliche Chips, steckte diese in kleine Fächer seiner Tastaturen und tippte anschließend eine Serie von Codes ein.
»Ich arbeite gar nichts, junge Miss. Vor zwanzig Jahren habe ich einige Algorithmen für eine Software geschrieben und diese patentieren lassen. Noch heute benutzen die meisten modernen Programme meine Algorithmen. Ich lebe von den Lizenzeinnahmen, keine große Sache. Nicht jeder erbt so vortrefflich wie mein Bruder«, sagte Wimille mit einer Gleichgültigkeit in der Stimme, die Tom verdächtig bekannt vorkam. Unweigerlich musste er schmunzeln.
»Veyron hat geerbt?«, fragte er interessiert.
Wimille brauchte einen Moment, bevor er antwortete. Neue Zahlencodes flogen über einen der Bildschirme und beanspruchten seine volle Aufmerksamkeit. »Ja, das Haus unserer Großeltern. Da wollte ich nicht hinziehen und hab ihm mein Erbteil überlassen, weil ich keine frei stehenden Gebäude mag. Ich hasse es, wenn man mich von allen Seiten begaffen kann. Schlimm genug, dass Häuser überhaupt Fenster haben. Ich hab alle Stockwerke angemietet, damit hier niemand sonst einzieht. Nur das Pub unten bin ich noch nicht losgeworden«, sagte er schließlich.
»Sind Sie ein Hacker? Sind Sie dafür nicht ein bisschen zu alt?«, wollte Vanessa wissen. Tom strafte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Verlegen biss sie sich auf die Lippe.
»Falls dreiundvierzig für Sie alt ist, kann ich Ihnen nicht helfen, Miss …«, gab Wimille mit Swift’scher Gelassenheit zurück. Er starrte auf den Bildschirm und verzog kurz das Gesicht. »Miss Sutton, aha. Sie kommunizieren sehr viel mit einer gewissen Miss Lilly Rodgers, wie ich sehe. Sehr unklug von der jungen Dame, ausgerechnet Ihnen zu vertrauen. Sie sind recht geschwätzig«, stellte Wimille abfällig fest. Er drückte eine Taste auf einer anderen Tatstatur. Auf zwei Bildschirmen erschien die Benutzeroberfläche von Vanessas Telefon zusammen mit den Gesprächsprotokollen aller ihrer Kontakte – und wiederum deren Gesprächsprotokolle mit all ihren Kontakten.
Tom schaute zu Vanessa, die abwechselnd glutrot und leichenblass wurde. Veyron war manchmal schon unerträglich direkt, aber Wimille zeigte überhaupt keine Hemmungen, seine Abneigung gegenüber Vanessa kundzutun. Er mochte Wimille jetzt schon.
Vanessa versuchte natürlich sofort, das Thema zu wechseln. »Wie viele Handys haben Sie da eben geknackt? Das sind ja Dutzende von Chats, die sich da öffnen«, rief sie voller Staunen aus.
»Momentan sind es einhundertvierzig, aber es werden mit jeder Sekunde mehr«, meinte Wimille beiläufig. »Mein Programm macht das ganz von allein, ich muss es nur überwachen. Das ist wirklich nicht so schwer, wenn man einmal in die Datenbanken der CIA und des MI-6 eingebrochen ist – was diese bis heute noch nicht bemerkt haben. Also, was wollt ihr zwei wissen?«
»Wir suchen Ernie Fraud. Ich hab den dringenden Verdacht, dass er sich in eine riesengroße Dummheit stürzt. Wir müssen wissen, wo er sich in diesem Moment aufhält«, sagte Tom.
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