Gegen Mittag kam sein Onkel, der meist irgendwo rund um das Gelände anzutreffen war und die schwereren Arbeiten, draußen bei den Rindern, seinen beiden Neffen zu überlassen pflegte. Immer wieder betonte er, dass er in seinem Leben mehr als genug Rindviecher gescheucht und gebrannt hätte – jetzt könne er es auch ein bisschen ruhiger angehen lassen mit fast siebzig.
„Bist du fertig?“ Mit diesem Satz steckte er den Kopf zur Tür herein. Ich hockte auf dem Boden der Sattelkammer, mit einem der Zaumzeuge beschäftigt und fuhr erschrocken herum.
„Fast“, gab ich ihm zur Antwort und betrachtete ihn für einen langen Augenblick. Der alte Rancher war immer höflich und freundlich zu mir und wenn ich sein faltiges Gesicht mit den grauen Haaren so betrachtete, glaubte ich immer, die Schönheit darin noch erkennen zu können, die es einstmals ausgezeichnet haben mussten.
„Na, dann mach’ mal Schluss für heute!“ Er zwinkerte mir übermütig zu. „Meine Frau hat vor einer halben Stunde frischen Kuchen aus dem Ofen geholt. Es gibt ihren Spezialkaffee dazu – na, was ist?“
Beim Wort „Kaffee“ konnte ich noch niemals widerstehen – auch, wenn ich mittlerweile wusste, dass die Spezialausführung hierzulande gefühlt zehnmal stärker war als der, den ich von Zuhause kannte. Er löste regelmäßig Herzrasen bei mir aus und doch war ich nicht fähig, dem lockenden Duft und der Vorfreude auf den Geschmack zu entsagen.
Die Sonne schien warm und einladend vom blauen Himmel herab, während ich es mir auf der überdachten Veranda vor dem Eingang zum Ranchhaus gemütlich machte. Die Senior-Chefin hatte bereits den rechteckigen Tisch gedeckt und der Kuchen stand darauf, unter einer Haube geschützt, aufgeschnitten und bereit zum Verzehr. Der Rancher lud uns beiden ein großes Stück auf die Teller und schenkte in die Pötte Kaffee ein. Seine Frau hatte an alles gedacht – Milch und Zucker für mich standen ebenfalls bereit.
„Na, er lässt dich ganz schön malochen, was?“, sagte er nach einer Weile und lächelte mir zu. „Mach’ dir nichts draus, er versucht dich bloß zu testen!“
„Sowas dachte ich mir schon“, erwiderte ich grinsend und schob eine Gabel Apple-Pie in den Mund. Ein entschlossener Ausdruck trat auf mein Gesicht. „Aber keine Sorge! Der wird sich noch wundern!“
Ein Schmunzeln zuckte um die Lippen des Ranchers. „Ah, mach’ dich nicht verrückt. Er ist halt ein bisschen kompliziert, aber ansonsten der beste Nachfolger, den jemand wie ich sich wünschen könnte.“
Ich hob die Brauen. Meine Augen fixierten ihn für einen Moment durchdringend. „Willst du dich etwa ganz zurückziehen?“
„Der Tag wird kommen, mein Kind!“ Er lächelte und schob seinen leeren Teller ans andere Ende des Tisches. „Aber ich mach’ mir keine Gedanken darüber, ob Tom der Sache hier gewachsen sein wird. Er ist ein Rancher, wie ich immer einer gewesen bin: Mit Herz und Seele, verstehst du? Das muss man sein, wenn man hier draußen, in der Einsamkeit und Wildnis durchkommen will.“
Ich nickte. Die Inbrunst und Überzeugung, mit der er diese Worte aussprach, beeindruckten mich. Ich hatte schon länger verstanden, dass die Menschen hier anders waren, traditionsbewusster, mehr verwurzelt mit ihrer eigenen Geschichte und denen ihrer Vorfahren, als es bei uns noch üblich war.
„Es ist besser geworden wie früher, als noch zu meiner Kindheit. Es gibt schnelle Autos, Radio, Fernsehen, Telefon, sogar dieses…dieses Internet haben wir. Davon versteh’ ich zwar nichts, aber es ist nicht mehr dasselbe, völlig von der Außenwelt abgeschottete Leben wie früher.“
„Trotzdem“, fiel ich ihm ins Wort und mein Blick schweifte über den Innenhof hinweg, „ist es, als ob hier die Zeit langsamer vorangegangen wäre als anderswo.“
Der alte Rancher betrachtete mich prüfend und ein Lächeln hob seine Mundwinkel. „Du kannst verstehen, was ich meine, was uns antreibt hierzubleiben, trotz der harten Arbeit, der wenigen Freizeit, wenn wir so etwas überhaupt kennen. All das kann uns nicht schrecken.“
„Ja“, sagte ich leise und ohne mir dessen bewusst zu sein, legte sich ein verträumter Schleier über mein Gesicht, der verriet, dass ich eine Reise in eine andere Zeit und Welt angetreten hatte. „Ich würde sofort hierbleiben, wenn ich könnte. Jeden Tag nichts anderes tun als Pferde versorgen von morgens bis abends, Heu schaufeln und den Hühnerstall misten. Hinausreiten und Rinder brennen, sie im Herbst wieder zusammentreiben… Es ist genauso wie damals, als Opa und ich vor dem Fernseher gesessen haben. Er war John Wayne und ich war das wilde, ungezähmte Cowgirl.“ Ein Ruck ging durch meinen Körper. „Gott, hör’ bloß nicht auf mein Geschwätz!“
„Wieso nicht? Ich wünschte, Tom wäre ein einziges Mal an eine Frau wie dich geraten in seinem Leben, anstatt an diese Schicksen, die er immer anbringt! Die halten es hier doch sowieso nicht lange aus und wenn sie dann fort sind, hat er wieder schlechte Laune.“
Ich erinnerte mich an den Vorfall vom Vormittag und konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. „Sie scheinen ihn aber auch wirklich nicht in Ruhe lassen zu wollen, die Damen, meine ich.“
„Ach!“ Der Rancher machte eine wegwerfende Handbewegung und brachte aus der Brusttasche seines Hemds eine Schachtel Zigarillos zum Vorschein. Einladend hielt er sie mir hin, einladend und herausfordernd zugleich, wie mir schien. Dankend nahm ich eine heraus. Sie rochen nach Vanille und besaßen keinen Filter.
„Ich wusste gar nicht, dass du rauchst“, bemerkte er. Seine linke Braue hob sich, während er zuerst mir Feuer gab und dann seinen Glimmstängel anzündete.
„Tue ich auch nicht, jedenfalls nicht regelmäßig“, erwiderte ich mit einem Zwinkern. „Ich mag keine normalen Zigaretten, nur solche Dinger da.“ Ich deutete auf den Zigarillo. „Das andere Zeugs schmeckt nicht – aber das schon.“
Ein leises, tiefes Lachen drang aus der Kehle des Ranchers. „Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die eine von mir genommen hat!“
„Ich bin keine richtige Frau“, erwiderte ich selbstbewusst und lehnte mich zurück. „Darum kann ich die auch rauchen, ganz einfach.“
„Ja, ich glaube, das ist das Problem.“ Er blies den Rauch gegen die Überdachung der Veranda. „Tom glaubt, du seihst nicht ganz richtig im Kopf.“
Diesmal war es an mir zu lachen. „Quatsch“, sagte ich und noch einmal: „Quatsch. Er kennt nur keine Frauen, die mit Rückgrat durchs Leben gehen und sich bewusst dagegen entscheiden, zwei Schritte hinter ihrem Mann zu folgen und damit ihre eigenen Ziele und Träume zu opfern.“
Der Rancher runzelte die Stirn. Seine blauen Augen blitzten mich an. „Du hast von Zuhause auch einen ganz guten Eigensinn mitbekommen.“
„Ich bin dazu erzogen worden, meine Meinung zu äußern, meine Freiheit zu leben und dass Ehrlichkeit wichtiger ist, als anderen Leuten zu gefallen.“ Herausfordernd warf ich den Kopf zurück. „Und ich bin stolz darauf.“
„Weißt du“, begann der alte Mann und seine blauen Augen wanderten hinüber zu dem kleinen Wäldchen schräg hinter dem Ranchhaus. „Tom hat den McCullough-Sturkopf geerbt. Er ist meinem Bruder verdammt ähnlich. Der hat auch selten an sich oder seinen Fähigkeiten gezweifelt und er hatte auch diese merkwürdige Eigenschaft, sich von anderen Menschen irgendwie immer fernzuhalten. Heute glaube ich, dass er im Grunde seines Herzens ein Einzelgänger gewesen ist – er wusste es bloß nicht.“
„Und Tom hat ihn sich zum Vorbild genommen?“ Meine Neugier war erwacht. Ich wollte mehr wissen über diese Familie, über Tom McCullough, den großen, dunklen, gutaussehenden Rancher, der mich so unglaublich faszinierte, wie noch nie ein Mann in meinem Leben zuvor.
„Nein, die beiden sind sich nie begegnet.“ Das einst attraktive Gesicht nahm einen melancholischen Ausdruck an. „Das letzte Mal, als ich meinen Bruder getroffen habe, war Tom noch nicht mal geboren. Und das nächste Mal haben wir ihn da drüben, unter den Bäumen, bei den anderen, beerdigt…“
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