Eila ruft mit heller Stimme die Pferde mit ihren Namen. Bereits nach dem zweiten Namen kommen alle schnaubend, mit wehenden Mähnen, zu ihr ans Gatter galoppiert. Sie krault sie nacheinander zwischen den Ohren und tätschelt ihre Hälse. Das Mädchen lehnt seinen Kopf an die der Pferde und pustet ihnen langsam in ihre Nüstern.
»Ich bin für einige Wochen bei Großvater, aber ich komme wieder. Vergesst mich nicht und seid brav!« Einige der Pferde wiehern leise, sie bewegen nickend den Kopf auf und nieder, so als ob sie verstanden hätten. Eila verlässt die Pferde, blickt sich auf dem Weg zum Mädchenhaus aber noch einmal kurz um. Die Pferde stehen noch am Gatter und schauen ihr nach.
Anna ist mit dem Packen fertig, auch Eila benötigt nicht lange dafür. Anschließend lesen sie noch etwas und legen sich dann schlafen. Am nächsten Vormittag werden alle Schüler durch die Schulleiterin in die Ferien entlassen. Einige Schüler verabschieden sich etwas traurig von ihren Lehrern, besonders die jüngeren unter ihnen. Viele Schüler werden bereits von ihren Eltern mit Kutschen abgeholt. Der Vorplatz bietet kaum genügend Platz für alle.
In der Mitte des Kiesplatzes ist ein großes Blumenrondell angeordnet, das durch eine niedrige Buchsbaumhecke eingefasst ist. Das Beet ist in zwölf Kreissegmente geteilt. Felder mit dunkelroten und weißen Rosen wechseln sich ab, jeweils durch eines der insgesamt sechs, sehr schmalen Lavendelfelder getrennt. Die Felder mit den roten und weißen Rosen stehen sich jeweils gegenüber. Das Blumenbeet stellt das Wappen der Schule nach, das oben in der Front über dem Eingang angebracht ist. Heute ist das Gegenstück des Wappens nicht zu sehen, da die Kutschen es dicht an dicht umschließen.
Die von weiter entfernt kommenden Schüler, die nicht abgeholt werden, nutzen bereit stehende Fuhrwerke. Sie werden damit in Begleitung einer Lehrkraft zum Bahnhof der nahen Stadt gebracht. Natürlich nutzen Eila und Anna nebeneinander liegende Plätze in einem dieser Transportmittel. Im Bahnhofwartesaal sitzen sie noch eine halbe Stunde zusammen, dann muss Eila in den Zug Richtung Norden. Annas Zug Richtung Süden kommt erst in einigen Minuten.
»Viel Spaß in den Ferien, und pass auf den schmalen Bergpfaden auf, wohin du trittst!«, lächelt Eila, trotz ihres mahnend erhobenen Zeigefingers.
»Und du pass auf, dass du dich nicht in irgendein Fabelwesen verzauberst!«, entgegnet zwinkernd Anna.
Beide umarmen sich, dann eilt Eila zum bereits eingefahrenen Zug und steigt ein. Als sie ein freies Abteil gefunden hat, öffnet sie das Fenster und winkt zu Anna zurück, während der Zug bereits losdampft.
Eila weilt bereits seit einigen Tagen bei ihrem Großvater, in einem kleinen Dorf im Norden des Landes. Sie hat die Hektik, Zwänge und Vorschriften des Lebens im Internat schon fast vergessen. Das Gedränge in der nahen Stadt, die sie etwa einmal im Monat zusammen mit Mitschülern der Oberstufe besuchen darf, ist ebenso schon fast vergessen.
Wie meistens sind ihre Eltern auch in diesen Ferien auf einer Forschungsreise. Sie reden nicht oft über ihre Arbeit. Aber das, was Eila darüber weiß, findet sie sehr spannend. Sie würde ihre Eltern sehr gern begleiten, doch das ist zu gefährlich, sagt ihr Vater John jedes Mal. Seine Stirn umwölkt sich dabei, und er blickt sie etwas traurig an. Vermutlich denkt er dann an den Tod seiner Eltern, auf deren letzter Forschungsreise.
Also verbringt Eila die Ferienzeit wieder einmal bei ihrem Großvater auf dem Land. Es ist nicht so, dass es ihr hier nicht gefällt. Sie ist hier groß geworden und genießt die Ruhe der sie umgebenden Natur. Sie riecht die duftenden Gräser und hört das Gesumme der Insekten. Sie saugt täglich die Bilder der leicht gewellten Hänge, der hügeligen Berge und Täler, in sich auf. Die Flächen sind mit Gras oder auch mit Heide bewachsen. Die Heidebüschel sind vereinzelt schon leicht violett überhaucht. Es dauert sicher nur noch kurze Zeit, bis alle voll erblüht sind.
Auf von Steinmauern eingefassten Weideflächen sind zottelige Schafe zu sehen, die, oft in großen Gruppen langsam weidend wandern. Manchmal ist das Geblöke von allen Seiten zu hören, trotz Eilas Entfernung zu ihnen. An vielen Stellen ist der Pflanzenbewuchs aber eher karg, so dass oft Gestein oder Geröll zum Vorschein kommt. Bäume sind dort meist nur vereinzelt zu sehen. In den saftig grünen Wiesen, in der Nähe vom Flusslauf im Tal, stehen sie auch schon mal in größeren Gruppen. Eila liebt diese Gegend, die trotz des teilweise rauen Eindrucks viel Ruhe und Frieden ausstrahlt.
Das kleine Haus des Großvaters, mit den weiß gerahmten Fenstern und einer ebenfalls weißen Eingangstür, steht etwas abseits zum Dorf, an einer, sich durch sanfte Hügel windenden Straße. Es ist von einem nicht mehr ganz weißen Holzzaun umgeben, der an vielen Stellen einen grünen Überzug aus Flechten oder Moosen aufweist.
Die altmodischen, roten Dachschindeln sind von Flechten und Moos überzogen. Durch eine mittlerweile wackelige Pforte im Zaun führt ein, mit roten Ziegeln eingefasster, gerader Kiesweg, durch die Beete des Vorgartens zum Eingang des Hauses. Dieser Vorgarten, zwischen Zaun und Haus, hat früher einmal sehr schön ausgesehen, jetzt haben sich die Stauden und Blumen aber ungehindert im Beet ausgebreitet.
Seit Eilas Großmutter vor zwei Jahren plötzlich gestorben ist, wird der Vorgarten etwas vernachlässigt. Der Großvater verlässt das Haus nur ungern, viel lieber liest er stundenlang in einem seiner vielen Bücher. Großmutter und Großvater haben sich sehr geliebt, so dass das Alleinsein für Brian nicht einfach ist. Eila ist sich sicher, dass er sich genauso auf die gemeinsame Zeit mit ihr freut, wie sie auch. Sie hat ihren Großvater sehr gern.
Innen ist das Haus heimelig eingerichtet. Vom Eingang gelangt man in einen kleinen Flur, von dem es nach rechts in eine kleine Küche mit niedriger Decke geht. Der Fußboden besteht dort aus Sandsteinplatten. Ausgestattet ist die Küche mit einem alten Herd, einem Sideboard mit dem Tagesgeschirr, einem schon wackeligen Küchenschrank für Töpfe und die Vorräte, einer Spüle und einem kleinen Ess- und Arbeitstisch mit vier Stühlen. Die Spüle befindet sich unterhalb eines zweiflügeligen Fensters mit Oberlicht, von dem aus der Vorgarten und der Weg zum Eingang einsehbar sind.
Von der Eingangstür liegt linker Hand vom Flur das Wohnzimmer. Es ist ein sehr großer Raum mit vielen Teppichen auf dem Sandsteinboden. An den Wänden stehen, bis zur Decke reichende, mächtige Bücherregale mit unzähligen Bänden. Trotzdem stapeln sich unzählige Bücher in allen Ecken auf dem Boden, für die in den Schränken und Regalen kein Platz mehr ist. Mittig im Zimmer steht ein großer, dunkelbrauner Tisch mit ovaler Platte, um den vier Stühle angeordnet sind. Zwei Ohrensessel und ein Sofa laden zum Verweilen ein. Ein offener Kamin gibt dem Zimmer, zusammen mit den Regalen und den vielen Büchern, eine besonders gemütliche Atmosphäre.
Gegenüber der Tür befindet sich ein großer Schreibtisch mit einem festen Aufsatz. Dieser besteht aus jeweils drei übereinander angeordneten Schubkästen an der linken und rechten Seite und einem offenem Fach dazwischen, mit einem Ablagebrett auf halber Höhe. Diese Schubfächer sind nie abgeschlossen und scheinen auch nichts von besonderem Wert zu enthalten. Auf dem Aufsatz stehen Bilder von Großvater zusammen mit Großmutter, je ein einzelnes von Großmutter und Eila, und eins von ihren Eltern vom letzten Treffen in den Winterferien, vor einem großen, geschmückten Baum. Links von der Tür befindet sich wiederum ein zweiflügeliges Fensters mit Oberlicht und Blick in den Vorgarten.
In diesem Zimmer liest Brian oft in einem der Bücher oder schaut sich Fotografien in Alben an. Eila kann sich ebenso wie er völlig in ein Buch versenken. Sie liest gerne, so dass sie sich mit den vielen Büchern in Großvaters Wohnzimmer wie im Paradies fühlt. Gerade wenn das Kaminfeuer lustig prasselnd wohlige Wärme abstrahlt und die Flammen Schatten und Muster über die Bücherschränke und in die Ecken wandern lässt, wirkt das Wohnzimmer zauberhaft und friedlich. Ein heißer, dampfender Kakao oder auch ein Kräutertee passen dabei vorzüglich zu den Butterplätzchen von Frau Dixon.
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