Brian hält die Messerseite des Brieföffners an das Gelenk des Armreifs und murmelt: »Aperio«. Der Reif ist für einen kurzen Moment etwas warm, ein Klack ist zu hören und der Verschluss ist geöffnet.
Eila staunt ihren Großvater ungläubig an: »War das jetzt — Magie? Du hast den Armreif doch kaum berührt.«
»So etwas in der Art«, entgegnet er. »Ich werde gleich eine Erklärung versuchen, dabei hilft mir das Buch«, lächelt er. »Habe also etwas Geduld.«
Beide setzen sich an den Tisch. Eila ist aufgeregt, während Brian bedächtig in dem ersten Buch zu blättern beginnt. Ziemlich weit hinten schlägt er es dann auf. Eila erkennt verschiedene Symbole, die wie alte Zeichen aussehen. Es sind Runen, gefolgt von längeren Textpassagen. Brian nimmt erneut den Brieföffner. Er hält diesmal den Griff mit dem Kristall an den Armreif.
»Kannst du die Runen auf beiden Innenseiten erkennen?«, fragt er.
Tatsächlich erscheinen dort nach kurzer Zeit mehrere der im Buch dargestellten Runen. Aufgeregt zeichnet Eila die Symbole auf ein Blatt Papier. Danach vergleichen beide die Zeichen mit den Symbolen im Buch und lesen die zugehörigen Texte. Nach längerem Rätseln, Interpretieren, Verwerfen und wieder Probieren, sind beide sicher, dass folgende Übersetzung die richtige ist:
Der Armreif stärkt den Auserwählten,
der Armreif schadet jedem Anderen.
Großvaters Augen glänzen und seine Wangen sind, genau wie Eilas, leicht gerötet.
»Was bedeutet das«, will Eila aufgeregt wissen.
»Warte noch etwas.«
Er öffnet das zweite Buch, blättert kurz darin und fordert sie dann auf, die von ihm gezeigte Stelle zu lesen. Mit Staunen stellt sie fest, dass dies die Geschichte ist, an die sie sich vorhin im Keller erinnerte. Die von ihr genutzten Worte wirkten genauso, wie sie in diesem Buch beschrieben werden. Eila schaut erstaunt auf den Titel des Buches, er lautet: »Anwendung magischer Sprüche«.
Eila denkt an die zurück liegende Unterhaltung mit Anna. Genau dieses Buch wollte sie studieren.
»Also sind das magische Worte, die ich benutzt habe. Aber warum kann ich damit überhaupt eine Wirkung erreichen?«
»Weil du eine Hexe bist, also ein weiblicher Zauberer! Die Fähigkeiten oder Kräfte eines Zauberers werden durch bestimmte Gegenstände verstärkt. Maireads Armreif ist ein sehr mächtiger Verstärker. Auch wenn du nicht ausgebildet bist, der Armreif hat dich unterstützt, als du diesen magischen Spruch sagtest.« Eila starrt den Großvater an, weiß nicht was sie sagen soll. »Auch wenn das unglaublich klingt, es ist wahr. Das wird eindeutig durch das bewiesen, was du gerade erlebt hast.«
Eilas Gedanken überschlagen sich, ist es möglich, dass sie eine Hexe ist? Aber das kann doch nicht sein!
»Bist du ein Zauberer? Du hast gerade ein Wort gesprochen, worauf sich der Armreif öffnete. Außerdem scheinst du die Zeichen in dem Armreif bereits vorher gesehen zu haben.«
»Nein, mein Kind, ich bin kein Zauberer. Deine Großmutter war eine sehr berühmte Hexe mit großer, magischer Kraft. Sie hat mir auch die Zeichen in dem Armreif gezeigt. Von ihr habe ich einige Worte gelernt. Um sie anwenden zu können, muss ich aber ein Hilfsmittel nutzen. Das hat mir Mairead beigebracht. Ein derartiges Hilfsmittel ist dieses Ensiculus Chartorum.«
»Vielleicht erinnerst du dich daran, dass deine Großmutter öfter mal für kurze Zeiten abwesend war. Sie unterstützte andere Zauberer im Kampf gegen böse Zauberer und deren Anhänger. Sehr oft konnte sie andere vor dem Tod erretten und das Bösen zurückdrängen. Mairead war in ihrem letzten Jahr sehr unruhig. Entweder merkte sie, dass ihre Zeit bald zu Ende ist, oder dass eine Bedrohung heraufzieht. Sie hat entgegen ihrer sonstigen Art den Armreif kaum noch abgelegt. Darum denke ich, sie spürte, dass die bösen Zauberer stärker werden.
Der Armreif hat eine magische Bedeutung, obwohl er für mich immer nur ein normaler Reif war. Sie beauftragte mich, ihn dir an deinem 18. Geburtstag, zusammen mit einem Brief, zu geben, falls sie dann nicht mehr leben sollte.« Er macht eine Pause. »Ich denke, dass du ihn unbedingt bereits jetzt lesen solltest! Das, was soeben im Keller geschehen ist, gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht!«
Er steht langsam auf.
»Ich hole dir jetzt diese Nachricht. Ich denke, sie hat dir darin aufgeschrieben, was du wissen musst.«
Brian geht durch den Flur nach oben in sein Schlafzimmer und kommt nach kurzer Zeit ins Wohnzimmer zurück. Er setzt sich neben Eila und gibt ihr mit zitternden Händen einen verschlossenen Umschlag, während eine Träne über sein verwittertes Gesicht läuft.
»Dies ist Maireads Vermächtnis«, sagt er leise und mit bewegter Stimme, »bitte lies es.«
Quer über den Umschlag steht geschrieben:
»Nur für Eila und nur von ihr zu öffnen!«
Der Brief ist mit einer Schnur umwickelt, die mit einem Siegel gesichert ist. Das Siegel zeigt den Abdruck der Sonne von dem Armreif.
Eila zerbricht das Siegel und wickelt die Schnur ab. Mit dem Brieföffner schlitzt sie vorsichtig den Umschlag auf und entnimmt ihm mehrere, eng beschriebene Bögen Papier. Sofort erkennt sie Großmutters zierliche Schrift, mit deren klaren, feinen Buchstaben.
»Mein Sonnenschein!
Wenn du dies liest, kann ich dir viele wichtige Dinge nicht mehr mitteilen, ich bin dann bereits gestorben.
Was ich niederschreibe, soll dir bei deiner nun anstehenden Ausbildung zum Zauberer helfen.
Genau, du liest richtig und ich bin nicht gaga!
Falls dein Großvater Brian es dir nicht bereits verraten hat: du bist eine Hexe! Deine Zauberkunst ist bisher als Talent in dir angelegt. Dein wahres Zaubervermögen und deine Kräfte müssen aber erst noch entwickelt werden.
Du wirst jetzt 18 Jahre alt sein. Das ist das Alter, in dem Zauberer mit ihrer Ausbildung beginnen.
Ich hätte dir so gern vieles selbst gesagt, da es dann einfacher gewesen wäre. Aber ich hoffe, du glaubst mir.
Da ich ja tot bin, kann ich dir jetzt schlecht einen Beweis geben. Dir ist aber sicher aufgefallen, dass du besonders gut mit allen Tieren umgehen kannst. Für manche, normale Menschen — Nicht Zauberer — ist das bei einigen Tierarten auch nicht ungewöhnlich, bei dir ist es aber bei allen Tieren so. Und das bereits seit deiner Geburt. Das ist nur möglich, wenn man magische Fähigkeiten besitzt.
Außerdem kannst du besonders gut bei Auseinandersetzungen zwischen Menschen vermitteln und Tätlichkeiten verhindern. Deshalb bist du an deiner Schule seit mehreren Jahren als Streitschlichter tätig. Das ist gerade in der heutigen Zeit bei vielen jungen Menschen nicht üblich. Aber du bist darin sehr erfolgreich und wirst von allen geschätzt.
Das sind ebenfalls Zeichen dafür, dass du magische Fähigkeiten besitzt.
Es ist so schwer, dir dies verständlich zu machen, dir Beispiele aufzuführen. Vielleicht vertraust du aber einfach deiner alten Großmutter und liest erst einmal weiter?«
Eila schaut einen kurzen Augenblick zum Großvater, der sich in seinen Lieblingssessel gesetzt hat. Er lächelt ihr zu. Sie vertieft sich wieder in den Brief ihrer Großmutter.
»Einiges von dem, was ich schreibe, notiere ich deshalb, weil etwas, womit man vertraut ist, weniger Furcht einflößt als Dinge, die nur angedeutet oder vermutet werden.
Viele Mitglieder unserer Familie sind Zauberer.
Dein Vater und deine Mutter sind auch Zauberer, dein Großvater aber nicht.
Zauberer sind »normale« Menschen mit unterschiedlich stark ausgeprägten magischen Fähigkeiten. Die magischen Fähigkeiten können erlernt und müssen geübt werden.
Nicht jeder Zauberer erreicht gleiche Zauberkräfte wie andere. Das hängt sowohl von den bereits bei der Geburt vorhandenen Talenten, aber auch von dem jeweiligen Lehrer ab. Dieser kann einem geeigneten Schüler gleiche wie seine eigenen Kräfte weitergeben, sozusagen diese auf ihn spiegeln. Hierbei werden die vorhandenen Zauberkräfte des Schülers erweitert und verstärkt. Die Kräfte eines Zauberers hängen somit von dessen Eigenschaften, seinem Wissen und seiner Erfahrung ab, aber auch von dessen Ausbilder.
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