Beide haben viele gemeinsame Interessen. In ihrer Freizeit lesen sie oft, albern herum, laufen durch den Park oder unterhalten sich über Jungen. Aber Anna teilt Eilas Liebe zu den Pferden nicht, sie hat eher etwas Angst vor den großen Tieren.
Die derzeitige Lieblingsbeschäftigung der beiden Mädchen ist das Erfinden und Fortführen kleiner Kurzgeschichten. Sie halten diese in einem Tauschbuch fest. Eila schreibt einen Teil einer erfundenen Geschichte und macht Zeichnungen dazu. Dann gibt sie es Anna, die in den nächsten Tagen die Geschichte weiterführt, bevor sie das Buch an Eila zurückgibt. Nun ist Eila wieder an der Reihe, usw. Beide genießen dies sehr. Oft lesen sie das bisher Festgehaltene und müssen heftig lachen.
An diesem Spätnachmittag sind die beiden Freundinnen in ihrem Zimmer. Anna liest in einem Buch, während Eila die Geschichte im Tauschbuch fortführt.
»Freust du dich auch so auf die Ferien?«, fragt Anna zu Eila blickend. »Ich kann es kaum noch erwarten, zu meinen Eltern und Geschwistern zu kommen. Wir wollen gemeinsam in die Berge verreisen. Dort werden wir zwei Wochen wandern und in Berghütten übernachten.«
Eila unterbricht ihre Zeichnung eines etwas sonderbaren, kleinen, gefleckten Hundes.
»Natürlich freue ich mich auch riesig auf die Ferien!« Helle, blaue Augen mit kleinen, grauen Einsprenkelungen blicken Anna an. Auf und um ihre gerade Nase sind vereinzelt schwache Sommersprossen sichtbar. »Es gibt dann keinen Zwang zum Tragen der Schuluniform, es stehen keine Klassenarbeiten oder Tests an, und ich kann bei Großvater Brian sein.«
»Fährst du diesmal zu deinen Eltern?«
»Nein, die müssen arbeiten. Ich fahre zu Großvater, wo ich sehr gerne bin. Wir können aber nicht verreisen, so wie ihr, dafür ist Großvater nicht mehr kräftig genug. Seine alten Knochen wollen nicht so, wie er wohl möchte, und er ist manchmal schnell außer Atem«, erwidert Eila, sie freundlich anblickend.
»Das ist schade.« Anna macht eine kleine Pause und fährt dann fort. »Es ist schön in den Bergen. Die Wanderung einen Berghang hinauf, weiter über schmale Gipfelpfade, die ungehinderte, weite Rundumsicht, und nachts das Schlafen im Heu der Berghütten, so etwas ist einfach toll. Wie du weißt, haben wir das bereits mehrfach gemacht. Ich werde dir alles berichten.«
»Gut, da freue ich mich drauf. Bitte halte das genau in deinem Tagebuch fest. — Ich werde bei Großvater in seinen alten Büchern schmökern. Er hat so viele. Es sind auch sehr interessante darunter, mit geheimnisvollen Geschichten. Du weißt, dass ich so etwas mag. Manche Geschichten sind sehr spannend. Ich weiß noch, dass ich in den letzten Ferien ein Buch mit dem Titel »Anwendung magischer Sprüche« gesehen habe. Es kommt mir immer wieder in den Sinn. Das werde ich mal studieren.«
»Willst du eine Hexe werden?«, neckt Anna sie.
»Na klar, und zwar die größte unter allen Hexen. Ich werde dann das Böse aus der Welt vertreiben und allen wird es gut gehen!«, lacht Eila. Anna vertieft sich wieder in ihr Buch und Eila denkt an ihre Familie.
Wie eben zu Anna gesagt, fährt sie zu ihrem Großvater Brian, der, seit Großmutter Maireads Tod vor zwei Jahren, jetzt alleine in dem gemütlichen Haus wohnt, das auch ihr Heim ist. Ihre Eltern, John und Maggie, sind oft auf Reisen. Sie sind Historiker und forschen an geschichtlichen Stätten. Da beide viel Erfahrung in derartigen Forschungsarbeiten haben, bekommen sie immer wieder Aufträge an oft weit entfernten Orten. Die dafür notwendige Zeit ist ziemlich groß, so dass Eila kaum mit ihnen zusammen gelebt hat. Sie wohnte also bei den Eltern ihrer Mutter, Brian und Mairead. Diese haben sie groß gezogen, bis sie ins Internat kam. In den Ferien fährt sie immer dorthin zurück.
Da so gut wie nie vorher gesagt werden kann, wann ihre Eltern ihre Arbeit beenden oder unterbrechen können, sind gemeinsame Zeiten mit ihnen nicht planbar. Besuche in Brians und Maireads Haus fanden immer unerwartet statt, meistens zur Winterzeit.
Eila erinnert sich gerne an die langen Gesprächsabende zwischen den Eltern und Großeltern, denen sie oft aufgeregt lauschte. Je älter sie wurde, desto mehr meinte sie, von den Forschungsarbeiten zu verstehen. Obwohl sie nicht oft für längere Zeit mit ihren Eltern zusammengelebt hat, liebt sie diese sehr. Eila ist ein Einzelkind – für mehr Kinder wäre es in dem kleinen Haus der Großeltern auf Dauer wohl etwas eng geworden.
Ihre anderen Großeltern sind bereits vor Eilas Geburt bei einem Unfall gestorben. Die Eltern ihres Vaters waren auch Forscher und sind bei einem Erdrutsch in einem großen Gebirgszug, fern im Osten, umgekommen.
Eila lächelt in Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Großvater und zeichnet weiter an der Geschichte mit dem gefleckten Hund.
Nach etwa einer Stunde gehen Eila und Anna nach unten, über den Vorplatz, die Treppe hinauf in das Haupthaus und dort zum Speisesaal. Sie essen mit den anderen Schülern, an langen Tischen sitzend. Die Tische sind in regelmäßigen Abständen unterbrochen, damit nicht die ganze Länge der Tafeln umrundet werden müsste. Die Lehrer haben drei separate Tische, die entsprechend den drei Gebäuden besetzt werden. Sie stehen auf einem erhöhten Podest, quer zu den Tischen der Schüler. Die Schülertische sind den Lehrertischen der einzelnen Gebäude zugeordnet.
Nach dem Essen wandern die beiden Freundinnen gemeinsam durch den Park. Dort stehen verstreut angeordnet, mächtige, alte Bäume. Es sind hauptsächlich Eichen und Eiben, aber es befinden sich auch einige Blutbuchen, Maronen und Rosskastanien darunter. Zwischen den Bäumen liegen große, gepflegte Rasenflächen. Der schon etwas ältere Gärtner kann die Pflege aller Außenanlagen nicht alleine schaffen. Er erhält Unterstützung von weiteren fünf Mitarbeitern, die er, je nach Bedarf, aus der nahen Stadt anfordert.
Eila und Anna gehen an dem ehrwürdig wirkenden, großen Mammutbaum vorbei. Er steht zentral innerhalb der Parkflächen, in etwa 200 Metern Entfernung zum Hauptgebäude. Durchbrochen wird die Parkanlage von Kieswegen, auf denen auch heute Abend Schüler und Schülerinnen des Internats in kleinen Gruppen spazieren, so wie Eila und Anna.
Rechts ist im hinteren Teil des Parks eine feine Rauchfahne zu sehen. Dort duckt sich ein kleines Backsteingebäude mit niedrigem Dach. Es steht in Verlängerung zu dem Haus der älteren Jungen. Dies ist das Wohnhaus des Gärtners und gleichzeitig sein Geräteschuppen. Das Haus ist mit einem kleinen Garten umgeben, in dem er etwas Gemüse für den Eigenbedarf anbaut. In einem eingezäunten Hof laufen pickend viele große, braune Hühner und zwei Hähne. Das daran anschließende Hühnerhaus ist hinter dem Wohnhaus versteckt. Auch von der Treppe, vom Schulgebäude zum Park, ist es nicht zu sehen.
Eila und Anna kommen an der Außen-Sportanlage vorbei. Deren Rennbahnen, Weitsprunggrube, Plätze für Hochsprung und Kugelstoßen und mehrere Tennisfelder sind in einigem Abstand zu einer Pferdekoppel links im Park angeordnet. Das ebenfalls dort liegende Freibad mit mehreren Wettkampfbahnen wird besonders an warmen Tagen gern genutzt. Jetzt ist es hier aber ruhig, die sonst übliche Geräuschkulisse fehlt.
Von links hören sie ab und zu Pferdegewieher. In einem größeren Abstand zum Schlafhaus der älteren Schülerinnen steht ein weiteres, großes Backsteingebäude mit drei Toren. Daneben ist eine große Koppel zu sehen, in der eine kleine Pferdeherde grast. Das Gebäude ist Stall, Heulager und Reithalle in einem. Die Pferde werden von einigen Schülern der Oberstufe, hauptsächlich aber von den Schülerinnen, gepflegt und versorgt.
»Lass uns jetzt aufs Zimmer gehen und unsere Koffer packen«, meint Anna.
»Geh du schon vor, ich muss mich noch von den Pferden verabschieden«, entgegnet Eila. Sie trennen sich. Anna kehrt zum Mädchenhaus zurück, während Eila zur Pferdekoppel geht.
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