Schließlich wurde das Schwein abgebrannt, damit die Borsten weg waren und dann mit heißem Wasser und dem Messer nachgearbeitet. Schön sauber. Später, nachdem das Schwein mit den Hinterpfoten an einen Schwengel gehängt und an einem Haken unter dem Schauer hochgezogen war, kam die erste Pause in Sicht. Das Schwein musste erst mal auskühlen. „Und wenn das Schwein am Haken hängt, wird erst mal einer einschenkt“, rief dann der Schlachter. Sarah kannte die Gebräuche und rauschte schon mit der Schnapsflasche an. Sie hatte es eilig. Es gab viel zu tun an einem solchen Tag, auch für die Frauen. Seit vier Uhr heizte die Magd Erna den Kessel und würde ihn den ganzen Tag nicht lange aus den Augen verlieren.
„Michael, drehst du wieder die Mettwurst durch?“, fragte Schlachter Lampe gewöhnlich. Der Schlachttag neigte sich dem Ende zu. Mettwurst machen war eine der letzten Arbeiten. Und ich würde antworten: „Das mache ich doch jedes Jahr.“ Bald wohl nicht mehr, kam es ihm noch in den Sinn, bevor er einschlief.
Am nächsten Morgen betrat Michael die vom Kessel verquiemte Waschküche. Die Würste wurden gerade herausgenommen und im kalten Wasser geschwenkt. Dann brachte Anna sie in die Wurstkammer. Karl war inzwischen auch da. Die Schmiede lief ja weiter - auch an solch einem Tag.
„Komm ran, Michael. Wir wollen fertig werden.“
„Klar, Schlachter Lampe. Und du weißt ja, nach jeder siebenten Wurst gibt es einen Schnaps.“ Alle lachten.
„Michael!“, blitzte Sarah.
„Na gut. Nach jeder elften Wurst.“
Sarah wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf.
„Keine Sorge Mutter, nur noch einen.“
„Oder zwei“, rief Bruder Hinrich.
Alle freuten sich schon insgeheim auf das Abendessen und das gemütliche Beisammensein. Das eigentliche Schlachtfest. Karl musste noch die Mettwürste auf den Boden bringen. Dort würden sie trocknen, bis sie reif waren - so sechs bis acht Wochen. Heinrich Schlachmann kümmerte sich noch um die beiden Hinterschinken. Er legte sie in einen Holzbottich und bedeckte sie ganz mit Salz. In dieser Sole würden sie dann sechs Wochen liegen bleiben, bis sie ebenfalls zu den Mettwürsten auf den Boden kamen und dort blieben, bis der Kuckuck ruft, so im Mai. Dann erst würde der Schinken von Vater Schlachmann angeschnitten werden. Voller Stolz, ganz Hausherr.
Vorläufig für mich das letzte Schlachtfest, dachte Michael. Auch ich komme ja mal wieder , schob er den Gedanken sofort beiseite.
Wenn er gewusst hätte, dass auch Menschen geschlachtet wer…
Jeder hatte sich noch mal ein bisschen gesäubert und versucht, den Gestank des Tages loszuwerden. Beim Schlachten allerdings roch es sowieso im ganzen Haus. Tagelang war das so. Alle saßen um den großen Tisch herum. Alle, die mitgeholfen hatten, so war es der Brauch. Michael sah dem Treiben zu. Er fühlte sich zufrieden hier - im Kreise seiner Lieben. Ein wohliges Gefühl von Geborgenheit erfüllte ihn. Viele hatten noch erhitzte Gesichter. Zu allem Überfluss war auch der alte Kamin noch an. Sarah konnte es nicht lassen. Aber sie bestand darauf, das Kesselfleisch würde so am besten schmecken. Vielleicht erinnerte sie irgendetwas in dem Zusammenhang an Spanien, an die Hazienda. Michaels Blick fiel auf Karl; der wirkte wie immer ruhig und gelassen. Ich glaube, Karl hat nur seine Schmiede im Kopf. Und natürlich Anna. Schön eigentlich. Hinrich sitzt natürlich neben Onkel Johann, wie jedes Mal. Die beiden werden ordentlich einen bechern heute - auch wie jedes Mal. Na und, dachte Michael, den Blick weiter in die Runde schweifen lassend. Warum auch nicht. Vater hat seinen Platz vor dem Tisch, an der Stirnseite. So wie es ihm gebührt. Doch sichtbar ein wenig stolzer an solchen Tagen, als man es sonst von ihm gewohnt ist. Mutter und Anna schmeißen wie immer den Laden. Immer darauf bedacht, dass der Knecht und seine Frau und Otto der zweite Geselle und der Lehrling schön am Tisch sitzen blieben. Jeder hatte seinen Beitrag geleistet und nun sollten alle Schlachtfest feiern. Das war Sarahs Credo. Natürlich war auch Alfonso mit seinem Sohn Antonio beim Essen dabei, obwohl sie nicht mitgeholfen hatten. Das war einfach nicht ihre Sache.
Sarah und Anna trugen auf, was das Zeug hielt. Frisches Mett. Natürlich gekochtes Bauchfleisch aus dem Kessel. Es dampfte nur so und roch vorzüglich, auch ein wenig nach Thymian. Sarah hatte immer getrockneten da. Dann die Knackwurst und die Leberwurst. In die Sülze kam ein wenig Muskat. Schwer zu bekommen in Braunschweig und dazu noch sehr teuer, aber Sarah bestand darauf. Dazu gab es eingemachte Gurken, Meerrettich und natürlich Mumme. Viel Mumme. Es wurde gelacht und sich zugeprostet.
All das nahm Michael wohl dieses Mal besonders wahr, obwohl er es doch schon so oft erlebt hatte. Die Stimmung war wunderbar. Michael sah, wie sein Vater seine Sarah anschaute, ohne dass die es bemerkte - voller Zärtlichkeit. Und wohl auch Dankbarkeit. Die beiden sind glücklich. Meine Eltern sind glücklich.
In Otto brodelte es. Ich muss es jetzt bringen oder nie. Lena bekomme ich ohnehin nicht. Also was soll es? „Wo hast Du eigentlich die Muskatnuss her, Meisterin.“ Die Stimme kam plötzlich, laut und schneidend - mitten in das fröhliche Treiben hinein. „Und die vielen Kräuter. Sind das Hexenkräuter?“
„Was fällt dir denn ein, Otto?“ Michael war der Erste, der die plötzliche Stille unterbrach. „Verträgst wohl die Mumme nicht, was?“
Sarahs sonst dunkelbraune Augen waren tiefschwarz, wie Kohlestücke. Sie sprach langsam. „Vom Markt, Otto. Es gibt einen Händler, der bringt sie manchmal mit.“ Sarahs ganze Haltung hatte sich verändert. Sie glich einem Raubtier kurz vor dem Sprung. Hier störte jemand ihre Familie, ihre Hausgemeinschaft und drang in die heilige Sphäre ihrer ‚Hazienda‛ ein. Sie wusste instinktiv, das hat nichts Gutes zu bedeuten.
„Man sagt, Muskat hilft auch gegen die Pest, aber nur, wenn Hexen es mit ihrer Teufelsspucke vermischt haben“, zischte Otto.
„Komm, Otto, was ist los mit dir? Lass uns weiter feiern“, mischte sich jetzt auch Karl ein.
„Du kannst mich mal“, kam es scharf zurück.
Was ist bloß in ihn gefahren , dachte Heinrich.
„Vor Kurzem hat man wieder eine Hexe verbrannt. Im Lechlumer Holz. Der Wald besteht inzwischen aus über siebzig Brandpfählen. Es wird wohl nicht die Letzte gewesen sein. Sie hatte immer eine Katze auf der Schulter. Deine Lea sitzt doch auch oft auf deiner Schulter, oder?“
„Ja, Otto. Muskat hilft angeblich gegen die Pest. Jedenfalls sagen das die Araber. Auch in den Städten Südspaniens weiß man darum. Jedermann kann es nehmen, wenn er glaubt, dass es hilft. Wie kommst du auf Hexen? Sag es mir?“ Sarah straffte ihren Körper noch weiter. Sie wollte die Hoheit im Raum wieder gewinnen.
„Wie kommst du überhaupt dazu, in meinem Hause die Stimme zu erheben?“ Heinrich Schlachmann, der bedächtige Büchsenmacher war aufgesprungen. „Du verlässt sofort diesen Raum. Dein Geld hast du ja wie üblich schon vor Weihnachten bekommen. Und morgen packst du dein Bündel und verschwindest von hier. Und jetzt raus!“
Eine Zornesader, die noch nie jemand bei Heinrich gesehen hatte, zeigte sich an der Schläfe. Jeder wusste, dass Heinrich nie viel sprach. Jeder wusste aber auch, wenn er etwas sagte, hatte es in der Regel Hand und Fuß. Und, wie auch in diesem Fall, war es endgültig. Otto stand, fast schon gelassen, auf und ging zur Küchentür.
Dort angekommen drehte er sich noch einmal um. „Es heißt, ein Mönch hat deinem Vater in Celle den Prozess gemacht. Du bist die Tochter eines Zauberers, Sarah Schlachmann.“
Die Unterhaltung kam nur langsam wieder in Gang, aber sie kam in Gang. Die meisten dachten wohl, Otto hat einfach zu viel getrunken oder sie wollten sich einfach einen solchen Abend nicht verderben lassen.
Читать дальше