Es war nicht sicher auszumachen, welche Gefühle sich da wie sortierten. Ich hatte mich nach Jahren der Selbstanalyse mit dieser Unklarheit in mir abgefunden. Nun warf mich die Radiosendung aus der Bahn. Den letzten Arbeitstag der Woche lenkte ich mich noch ab mit intensivem Arbeiten. Aber es half nichts. Kaum hatte ich Ruhe, fiel ich in eine Lähmung. Ich vermochte nicht aufzustehen. Mein ganzes Wesen war im Schmerz gefangen. Stockholmsyndrom. Eine Ahnung befiel mich, wie hart alles gewesen sein musste, als Vater begann, mich sexuell zu missbrauchen. Die ungerechtfertigten Beschuldigungen. Das Sitzen müssen im Keller. Angstvolles Warten, bis er endlich kam und mich nach seiner Triebbefriedigung wieder mit hoch in die Wohnung nahm. Ans Licht, zu meinem Spiel. Seit dem Hören der Radiosendung lag ich nun schon zwei Tage gelähmt im Bett. Mit meinem Leiden an meinem Zustand wuchs die Wut auf meine Mutter. Vater konnte mich nur so für sich gewinnen, weil sie mich so allumfassend verachtet hatte. Irgend einen Halt brauchte ich und so wehrte ich mich nicht mehr gegen Vater. Wurde zu seiner Lieblingstochter. In meiner wachsenden Wut auf meine Mutter wuchs ein Gedanke: „Du lügst“. Mein Schmerz gab mir die Kraft mich zu erinnern, was geschah, als Mutter von dem sexuellen Manipulieren an meiner Nichte als Baby erfuhr. „Das wird nicht gemacht!“, hatte sie in höchster Not geschrien. In Bezug auf meine Person jedoch hatte sie keinerlei Mitgefühl entwickelt. Aber wenigstens bei ihrer Enkelin hatte sie versucht, Vater Einhalt zu gebieten.
„Du lügst, Mutter“. Diese drei Worte, nunmehr aufgestiegen in meinen Kopf, brachen meine Lähmung und ich vermochte aus dem Bett aufstehen. Ich beschloss, sie zu konfrontieren bei meinem nächsten Aufenthalt bei ihr, wenn die Reihe unter meinen Geschwistern wieder an mir war, sie zu pflegen. Und hier wollte ich sie zur Rede stellen: „Du lügst, Mutter“.
In den darauf folgenden Tagen dachte ich viel über das bevorstehende Gespräch nach. Was, wenn mir die Einzelheiten aus ihrem Mund wiederum einen flashback auslösten? Was, wenn sie ein Geständnis ablegt und danach aus dem Fenster springt? Was, wenn sie sich bei den Geschwistern beschwert?
Ich war also dieses Wochenende mit dem festen Vorsatz angereist, Mutter noch einmal zur Rede zu stellen.
Kaum bei ihr angekommen, nahm ich ihre große Schwäche wahr. Ich schämte mich, dass ich eine so alte Frau in Bedrängnis bringen wollte. Brauchte ich das Gespräch wirklich? Konnte ich mir und meinen Erinnerungen selbst nicht glauben? Ich rief mir bewusst Situationen im Geschehen um den Missbrauch ins Gedächtnis. Als ich ungefähr 18 Jahre alt war, prüfte Mutter mich mit gezielten Fragen, ob ich auch alles gut vergessen hatte. Ja. Damals hatte ich den sexuellen Missbrauch vergessen.
Doch. Ich wollte das Gespräch. Es war wichtig. Diese Familie würde irgendwann beginnen, den Missbrauch aufzuarbeiten. Es war wichtig, ihre Position zu kennen, auch jetzt, da sie so alt und schwach war. Ich beschloss, mit ihr auf behutsame Weise zu reden.
Als sie mich in der Tür stehen sieht, freut Mutter sich. Jetzt ist sie nicht mehr alleine. Es stinkt nach Kot. Ich setze die Reisetasche ab, gut neben den Stuhl, damit Mutter nicht über die Schlaufen stolpert und öffne, noch mit der Jacke bekleidet, das Küchenfenster. Die Luft in der Wohnung ist trocken und überheizt. Dann ziehe ich Schuhe und Jacke aus. Mutter klagt, dass sie ganz durcheinander sei. Sie geht in das Wohnzimmer zum laufenden Fernseher mit den entschuldigenden Worten, sie müsse sich mal hinsetzen. Ihr sei ganz schwindelig. Auf dem kleinen Tisch an der Couch stehen Reste vom Abendbrot. Butter, eine Scheibe angetrocknete Wurst, etwas Käse, eine Kanne mit einem Rest Tee. Ich setze mich zu ihr, starre auf den laufenden Fernseher. Eine Unterhaltungssendung. Die Zuschauer lachen. Ich kann nicht lachen. Meine Mutter erzählt etwas über den Moderator. Klatsch aus dem Fernsehmagazin. Ich höre nicht wirklich zu. Ich starre gebannt auf die bewegten Bilder. Bei mir zu Hause habe ich keinen Fernseher. Manchmal schaue ich die Tagesschau per Internet. Oder ich streame einen Film. Das ist zwar illegal, aber bequem. Jetzt hat ein Satz des Moderators eine Erinnerung meiner Mutter berührt. Sie erzählt mir ausführlich von ihrem Vater. Der war Schneidermeister. Ein Herrenschneider. Selbst einem Buckeligen vermochte er einen Anzug so zu nähen, dass man den Buckel nicht mehr sah. Es sei zu dieser Zeit nicht selbstverständlich gewesen, dass ein Mann seine Familie von seinem Verdienst ernähren konnte. Aber ihr Vater konnte das. Und darauf war er sehr stolz. Er hatte von morgens bis zum Abend viel zu arbeiten. Und die Mutter musste den ganzen Haushalt besorgen und das Schwein und die Hühner und Enten. Meine Mutter zählte nicht die drei Kinder auf, sich selbst und ihre Geschwister, die im Haushalt lebten. Beizeiten am Tag rief der Vater ins Haus, wann Mutters Mutter endlich in die Schneiderstube komme. Sie werde dringend gebraucht. Die Mutter meiner Mutter war Kunststopferin. Die ideale Partnerin eines Schneiders. Wenn beim Bügeln des Anzugs ein Stück Glut aus dem Eisen heraus und auf den Stoff gefallen war, dann war es an ihr, das in den Stoff gebrannte Loch so kunstfertig zu stopfen, dass man es nicht mehr sah. Wie sie das bewerkstelligte ? Sie löste an einer unauffälligen Stelle ein Stück Faser aus dem Gewebe und stopfte es in der genauen Abfolge, wie der Weber einst das Tuch gewebt hatte, um das Loch herum wieder ein. Für diese Arbeit brauchte also der Schneidermeister seine Frau dringend. Außerdem hatte sie das Futter in die Anzugteile einzunähen, mit der Hand selbstverständlich. Das einzige Hobby, was mein Großvater sich leistete, war einmal wöchentlich der Gesangsverein. Dort ging er abends hin. Er soll eine sehr schöne Stimme gehabt haben. Von ihm hatte ich also meine Begabung geerbt. Aber als der Krieg kam, hörte das Singen auf.
Endlich wird die Tür geöffnet. Elli stürzt heraus, rempelt dabei ein Kind an. Elli weiß nicht, wie das Mädchen heißt, sie kennt hier noch niemanden. Es ist ihr aber auch ziemlich gleichgültig, ob sie dem Mädchen wehgetan hat. Elli will raus. Jetzt hat sie schon die schneebedeckte Wiese erreicht. Vor ihr steigt eine Böschung an. Oben, schon fast auf der Höhe, hat sie ihren Bruder entdeckt. Sie möchte zu ihm. Die anderen Kinder aus ihrer Gruppe holen sie ein, aber Elli interessiert sich nicht für sie, Elli möchte nur zu ihrem Bruder. Zu Hause spielt sie auch immer mit ihm. Und die Kinder in ihrer Gruppe sind ihr alle so fremd.
Ellis Bruder ist zwei Jahre älter als sie. Er kennt sich gut aus im Kindergarten. Sie jedenfalls findet alles ziemlich schrecklich hier. Heute ist ihr erster Tag. Die Eltern hatten auch noch gesagt, dass sie es leichter haben wird, weil ja ihr Bruder mit dabei sei. Aber als heute der Tag begann, ging ihr Bruder in einen ganz anderen Raum als sie. Als sie sich darüber beschwerte, erklärte ihr die Erzieherin die Ordnung im Kindergarten. „Dein Bruder muss doch in eine andere Gruppe gehen, er ist immerhin zwei Jahre älter als du. Und jede Gruppe hat ihren eigenen Raum.“ Elli ist enttäuscht.
Nun aber hat sie ihn endlich entdeckt. Sie ruft ihn. Sie kann noch nicht so schnell laufen wie die großen Jungs. Nächstes Jahr kommen die schon in die Schule. Endlich hört sie der Bruder. Er zögert einen Augenblick, schaut unwillig zu Elli, dann läuft er davon. Nein, er hat keine Lust, mit seiner kleinen Schwester zu spielen. Zu Hause müssen sie schon immer zusammen spielen. Er möchte mit seinen Jungs spielen. Aber sein Zögern dauert einen Moment zu lang. Elli hat ihn erreicht, genauer gesagt, sie hat den Zipfel seiner Jacke erwischt, und nun packt sie um so fester zu. Aber ihr Wollen ist größer als ihre Geschicklichkeit. Sie rutscht auf dem Schnee aus. Im Fallen fängt sie sich mit ihren Händen auf, und schon ist der Bruder freigegeben. Der nutzt den Augenblick und läuft seinen Freunden nach.
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