Fast erwartete sie nun, die Schlaftabletten wären ebenso wie die Wodkaflasche in ihr Leben zurückgekehrt. Doch das war zum Glück nicht der Fall. Die Stelle, an der sie früher immer gelegen hatten, war noch immer verwaist. Und auch der Lockruf des Abgrunds jenseits des Todes, den sie früher beim Anblick des Einschlafmittels verspürt hatte, blieb ihr erspart. Sie hatte nicht länger das Gefühl, der Tod wäre eine einfache und praktikable Möglichkeit, all ihre Probleme auf einen Schlag zu lösen. Die Begegnung mit dem Apokalypse-Killer, so schrecklich sie auch gewesen war und so vielen Leuten er den Tod gebracht hatte, hatte ihr zumindest den unbedingten Willen zum Weiterleben zurückgegeben. Und dafür war sie zutiefst dankbar.
Dennoch fragte sie sich, als sie den Spiegelschrank wieder schloss, was hier eigentlich los war. Woher kam die Wodkaflasche? Hatte sie selbst sie besorgt, ohne dass sie sich daran erinnern konnte? Und hatte sie dann die Flasche ausgetrunken und auf der Couch das Bewusstsein verloren, um in einem der fürchterlichsten Albträume mitzuerleben, wie ein Geistlicher, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte, ermordet wurde?
Das kann doch alles nicht wahr sein! , dachte Anja. Wie an einen Strohhalm klammerte sie sich verzweifelt an den plötzlich in ihr aufkeimenden Einfall, dass sie noch immer träumte. Dass sie weiterhin tief und fest schlief und der Albtraum noch gar nicht zu Ende gegangen war.
Doch dann überzeugte der Schmerz in ihrem Kopf sie davon, dass sie wach war und nicht träumte.
Ihr wurde erneut bewusst, dass sie großen Durst hatte und fror. Außerdem stank sie nach dem Schweiß, der zum größten Teil auf ihrem Körper getrocknet war. Alles in ihr sehnte sich nach einer heißen Dusche. Sie wusste zwar nicht, wie spät es war, doch ihre innere Uhr sagte ihr, dass es noch ein paar Stunden dauern würde, bis der neue Tag heraufdämmerte. Und da sie ohnehin so schnell keinen Schlaf finden würde, weil ihr so viele beunruhigende und beängstigende Gedanken durch den Kopf gingen, konnte sie genauso gut duschen, sobald sie sich die Zähne geputzt hatte, um den üblen Geschmack loszuwerden, und etwas Wasser getrunken hatte, um ihren Durst zu stillen.
Wenn sie hinterher immer noch nicht müde war, wollte sie einen großen Becher Kaffee trinken und anschließend eine Runde durch den Westpark joggen. Vielleicht kam sie dabei auf andere Gedanken.
I
Doch aus dem Laufen wurde leider nichts.
Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich schon erheblich besser. So als hätte sie damit nahezu alle körperlichen Nachwirkungen des Alkoholkonsums und des Albtraums einfach wegwaschen können. Obwohl sie sich noch immer lebhafter, als ihr lieb war, an die Ermordung des katholischen Priesters erinnerte, standen ihr die Bilder nicht mehr ständig anklagend vor Augen. Und auch die Kopfschmerzen waren wesentlich schwächer geworden. Deswegen verzichtete sie auch darauf, eine Schmerztablette zu nehmen.
Die Welt sah also schon wieder etwas besser aus, als Anja, lediglich in einem Bademantel gehüllt, in der Küche saß und den ersten Becher Kaffee des Tages trank.
Um das angenehme Gefühl, das sie erfüllte, nicht sofort wieder im Keim zu ersticken, vermied sie es bewusst, an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer zu denken. Oder sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum sie sich nicht daran erinnern konnte, dass sie diese gekauft und den Alkohol getrunken hatte. Denn jedes Mal, wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung lenkte, stieß sie nicht auf die fraglichen Erinnerungen, sondern nur auf eine blanke, leergefegte Fläche.
Ein Blackout!
Aus der unrühmlichen Phase ihres Lebens, als sie zu viel und zu regelmäßig getrunken hatte, um ihre Sorgen und Probleme im Alkohol zu ertränken, kannte sie solche Blackouts. Doch irgendwie fühlte es sich heute anders an als früher. Es fühlte sich nicht richtig an! Allerdings konnte Anja zu ihrem Bedauern nicht sagen, was genau sie daran störte. Sie wusste nur, dass es nicht so war, wie es eigentlich sein sollte. Und das beunruhigte sie.
Deshalb vermied sie für den Moment nach Möglichkeit alle Überlegungen, die in diese Richtung gingen. Sie wusste ohnehin, dass sie augenblicklich noch nicht einmal ansatzweise in der Lage war, dieses Rätsel zu lösen. Also war es besser, sie ließ es vorerst bleiben und grübelte nicht dauernd fruchtlos darüber nach. Damit verschwendete sie nur ihre Zeit; und die konnte sie auf andere Art und Weise wesentlich besser nutzen.
Anja trank den Kaffeebecher aus und überlegte, ob sie sich erst noch einen zweiten genehmigen oder sich stattdessen gleich ihre Joggingsachen anziehen sollte. Doch noch bevor sie sich entschieden hatte, intonierte ihr Handy das Lied »Engel« von Rammstein und signalisierte ihr damit, dass sie einen Anruf bekam.
Nachdem sie den leeren Becher abgestellt hatte, stand sie auf und ging in den Flur, aus dem der Klingelton ihres Smartphones kam. Es lag auf dem Schuhschrank neben der Garderobe. Anja konnte sich zwar nicht erinnern, es gestern dorthin gelegt zu haben, aber da sie das oft tat, wunderte sie sich auch nicht darüber.
Sie erkannte die Nummer, die angezeigt wurde, und verzog unweigerlich das Gesicht. Ein Anruf dieses Mannes war für sie gleich in zweifacher Hinsicht unangenehm. Erstens mochte sie Anton Krieger nicht besonders. Und zweitens bedeutete es prinzipiell nie etwas Gutes, wenn ein Kollege von der Mordkommission sie zu einer derart nachtschlafenden Zeit anrief.
II
Anja Spangenberg war ebenfalls bei der Kriminalpolizei München tätig. Allerdings arbeitete sie nicht in der Mordkommission, sondern als Kriminalhauptkommissarin im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle. Diese war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Da Anja allerdings keine besondere Vorliebe für, sondern im Gegenteil eine ausgeprägte Abneigung gegen Leichen hatte, war sie froh, dass sich ihr Zuständigkeitsbereich auf vermisste Personen beschränkte.
Gleichwohl wurde sie immer dann von den zuständigen Mord- oder Todesermittlern umgehend darüber informiert und an den Tatort oder in einen Sektionsraum des Instituts für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße gebeten, wenn einer ihrer Vermissten als Leichnam wieder auftauchte. Dort mussten sie dann gemeinsam einen Abgleich der Beschreibungsmerkmale der unbekannten Leiche mit den Angaben über die vermisste Person aus der Vermisstenanzeige durchführen, um zu klären, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um die gesuchte Person handelte. Sofern die vorhandenen Merkmale für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht ausreichten, erfolgte zusätzlich ein DNA-Abgleich. Erst wenn die Leiche eindeutig als die vermisste Person identifiziert werden konnte, konnten auch die Angehörigen benachrichtigt werden. Damit war der Vermisstenfall für Anja erledigt.
Obwohl es zum Glück nicht oft vorkam, weil die überwiegende Anzahl der Vermisstenfälle sich dadurch erledigte, dass die Vermissten früher oder später von selbst nach Hause zurückkehrten oder dank der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen gefunden wurden, hatte Anja einen wahren Horror vor den sporadischen Besuchen im Keller des rechtsmedizinischen Instituts.
Als sie nun die Nummer des Anrufers erkannte, brach ihr daher erneut der Angstschweiß aus. Und obwohl sie gerade einen ganzen Becher Kaffee ausgetrunken hatte, wurde ihr Mund so trocken, als hätte sie einen Spaziergang durch die Wüste unternommen.
Wenn Kriminaloberkommissar Anton Krieger um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass eine unbekannte Leiche aufgetaucht war und die routinemäßige Recherche in der Datei für »Vermisste/Unbekannte Tote« einen Zusammenhang mit einem ihrer Vermisstenfälle ergeben hatte. Anja erschauderte daher schon beim bloßen Gedanken daran, dass sie demnächst erneut mit einer Leiche konfrontiert werden würde.
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