„Wie lange dauert das denn noch,“ sagte Leo Schwartz verärgert. Der 51-jährige, gebürtige Schwabe stach auch heute wieder nicht nur durch seine Größe von 1,90 m hervor, sondern durch ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein neofarbener Kopf eines unbekannten Freiheitskämpfers prangte. Vor allem die sonnenverbrannte Haut, die sich inzwischen von Kopf und Armen ablöste, sowie die Badelatschen, zogen alle Blicke auf sich. Aber das war alles nebensächlich und interessierte Leo nicht.
Es war heiß, sehr heiß. Für Ende Juni nicht ungewöhnlich, aber die Hitze erschwerte die Arbeit.
„Die Gaswerke sind dran,“ sagte Werner Grössert äußerlich gefasst, aber innerlich brodelte es. Dem 40-Jährigen schien die Hitze nichts auszumachen, denn auch heute sah er wieder wie aus dem Ei gepellt aus. Er trug wieder einen sündhaft teuren, modernen Anzug, dessen Stoff in der Sonne glänzte. Werner machte sich große Sorgen, denn er kannte Maja persönlich. Für ihn stellte sich nicht die Frage, warum sie ihrem Leben ein Ende setzen und ihre Kinder mitnehmen wollte, er konnte sie irgendwie verstehen. Man hatte ihr übel mitgespielt und das war das Resultat. Erneut ging er die Pläne des Hauses durch und suchte mit Hochdruck nach einem Weg, irgendwie doch noch ins Haus zu gelangen. Hans Hiebler stand ihm zur Seite. Den 55-jährigen Junggesellen umgab wieder ein betörender Herrenduft. Außerdem war er braungebrannt und trug zu seinem weißen Leinenhemd Jeans und Slipper, alles farblich aufeinander abgestimmt. Hans machte sich von allen die größten Sorgen, denn Maja hatte bei ihm Hilfe gesucht und er hatte in seinen Augen kläglich versagt. Er kannte die 41-jährige Frau von klein auf. Sie wuchs auf einem der Nachbarbauernhöfe auf, die an seinen grenzten. Ihn und Maja trennten zwar viele Jahre, aber trotzdem lief man sich immer wieder über den Weg.
„Das Haus ist wie eine Festung gebaut,“ sagte Werner verzweifelt. „Die Fenster können wir vergessen, die sind alle vergittert. Die Haustür ist so solide, dass man sie sprengen müsste. Und der Keller ist von außen nur durch die Garage zu erreichen.“
„Was ist mit dem Garagentor?“
„Das ist verschlossen und müsste aufgeschweißt oder ebenfalls gesprengt werden. Das ist doch nicht zum Aushalten! Wir kommen nicht ins Haus!“
„Wo bleibt Susanne Ettl? Sie müsste doch schon längst hier sein!“, rief Leo verärgert. Seit die Mühldorfer Kripo den Abschiedsbrief gefunden hatte, suchten sie mit Hochdruck nach der Schwägerin, die sich offensichtlich in der Schweiz aufhielt. Aber wo? Nur sie hatte einen Hausschlüssel. Und nur sie konnte vielleicht zu ihrer Schwägerin durchdringen und sie zur Aufgabe überreden. Die Polizei hatte alle möglichen Freunde aufgetrieben, die vergeblich versucht hatten, Maja von ihrem Vorhaben abzuhalten. Eigene Familienangehörige hatte Maja nicht. Außer ihrer Schwägerin Susanne war niemand übriggeblieben.
Keiner zweifelte daran, dass Maja ihr Vorhaben durchziehen wollte.
Maja interessierte nicht, was vor ihrem Haus ablief. Sie wartete nur darauf, dass ihre Tochter endlich einschlief. Vorher konnte sie das Feuerzeug nicht betätigen. Sie spürte das Gas, das sich immer mehr ausbreitete. Ein einziger Funke würde genügen. Nur ein einziger Funke und dann war endlich alles vorbei.
Linas Augen wurden schwerer und schwerer. Maja sang unvermittelt weiter. Seltsam. Gerade jetzt fielen ihr alle Schlaflieder ein, die sie jemals gehört hatte. Dabei war es ihr gleichgültig, ob sie die Liedtexte richtig wiedergab. Es war nur wichtig, dass sie weitersang und ihre Tochter endlich einschlief.
Vier Wochen vorher.
Mittwoch 3. August
„Ich brauche keinen Arzt, mir geht es gut,“ wehrte sich Maja gegen die festen Griffe der beiden Sanitäter, die sie sanft, aber bestimmt aus dem Bett zogen. Sie hatte keine Chance gegen die beiden und musste sich geschlagen geben. Schon seit Tagen fühlte sie sich schlapp und hatte keinen Appetit. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ihren Mann, der neben der Tür stand.
„Sandro, hilf mir,“ flehte sie ihren Mann an. Aber der schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf.
„Es ist besser so Liebes, glaub mir,“ flüsterte er.
„Lina und Marco,“ bäumte sie sich von der Trage auf und wurde sofort unsanft wieder zurückgedrückt.
„Ich kümmere mich um die beiden, mach dir keine Sorgen,“ sagte Sandro Ettl. Seine Frau so zu sehen, schnürte ihm die Kehle zu. Maja war immer stark gewesen und darum hatte er sie immer bewundert. Er war nie so stark wie sie. Er hielt sich lieber im Hintergrund und ließ andere vorpreschen. Außerdem hasste er Probleme. Er ging allem Unangenehmen aus dem Weg. Dafür hatte er seine Maja, die wie ein Fels in der Brandung immer parat stand, wenn es Schwierigkeiten gab. Aber seit Tagen erkannte er seine Frau nicht wieder. Sie lag nur noch im Bett, aß und trank nichts und faselte nur dummes Zeug. Es war richtig gewesen, Hilfe zu holen.
Der Arzt entschied, Maja zu fixieren, woraufhin sie ihn anstarrte.
„Das ist zu Ihrem Besten,“ sagte er nur. Dr. Salzberger konnte nicht riskieren, dass die an sich körperlich kräftige Frau durch eine Unachtsamkeit von der Trage fiel. Die Folgen wären für ihn katastrophal. Er hatte versprochen, sich um die Patientin zu kümmern, wofür er fürstlich belohnt wurde. Zur Sicherheit gab Dr. Salzberger der Patientin, die er bis dato persönlich nicht kannte, eine Beruhigungsspritze. Sie wirkte schnell und er konnte sie endlich abtransportieren lassen.
Sandro Ettl sah dem Krankenwagen hinterher. Er fragte nicht, wohin seine Frau gebracht wurde, es war ihm im Moment auch egal. Geschockt von dem Zustand seiner Frau und dem, was er die letzten Tage beobachten musste, stand er einfach nur da und beantwortete die Fragen Dr. Salzbergers.
„Wer hat den Notarzt alarmiert?“
„Unser Kindermädchen Elena fand meine Frau in diesem Zustand. Sie bekam es mit der Angst zu tun und hat mich im Büro angerufen. Meine Mutter hat alles weitere in die Wege geleitet.“
Dr. Salzberger machte eifrig Notizen.
„Was ist mit meiner Frau?“
„Das finden wir heraus, machen Sie sich keine Sorgen. Nimmt Ihre Frau Medikamente?“
„Keine Ahnung. Müsste ich nachsehen,“ murmelte Sandro Ettl, ohne Anstalten zu machen, sich zu bewegen.
„Wenn Sie das bitte tun würden?“ Als sich Sandro Ettl immer noch nicht rührte, fügte er hinzu: „Es ist sehr wichtig.“
Wie ferngesteuert setzte er sich in Bewegung und ging ins Bad. Die Hausapotheke war übersichtlich und bestand aus den üblichen Medikamenten eines Durchschnittsbürgers. Und aus einigen Naturheilmitteln, die keine Gefahr darstellten.
„Vielleicht im Schlafzimmer?“, bohrte Dr. Salzberger nach. Er hatte kein Mitleid mit Herrn Ettl, dafür hatte er schon viel zu viel Elend gesehen.
Sandro ging ins Schlafzimmer und öffnete die Schublade des Nachttisches seiner Frau. Erschrocken starrte er auf den Inhalt. Das alles soll seine Frau eingenommen haben?
„Was ist das für Zeugs?“
„Schlafmittel, Psychopharmaka, Schmerzmittel,“ sagte Dr. Salzberger und machte sich eifrig Notizen. „Leidet Ihre Frau an Angstzuständen? War sie in Behandlung?“
„Nein!“, rief Sandro viel zu laut. „Meine Frau war bis vor zwei Wochen kerngesund. Das hier passt nicht zu ihr. Maja hasste Medikamente und würde dieses Teufelszeugs niemals anrühren. Woher hat sie das?“
„Beruhigen Sie sich,“ sagte Dr. Salzberger. „Nur noch eine Frage, dann bin ich weg. Wer ist der Hausarzt Ihrer Frau?“
„Sie vertraut Ärzten nicht. Sie gibt ihnen die Schuld am Tod ihrer Eltern. Ihrer Meinung nach wurden sie falsch behandelt und sind deshalb gestorben. Seit ich Maja kenne, geht sie zu einem Heilpraktiker. Auch unsere Kinder vertraut sie keinem Arzt an, weshalb es immer wieder Streit in der Familie gab.“
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