Tom war beeindruckt wie ruhig und vorwitzig sein Pate in dieser Situation geblieben war. Jane dagegen schien im höchsten Maße aufgeregt und eingeschüchtert. Sie spielte nervös mit ihren Fingern und warf pausenlos wachsame Blicke hinaus auf den engen Gang.
»Sie sind verrückt! Einer der gefährlichsten Männer der Welt erpresst Sie, setzt Killer und Entführer auf uns andere an – und was tun Sie? Anstatt sich bei der Polizei zu melden, spielen Sie mit diesem Fellows auch noch Spielchen! Ist Ihnen klar, in welche Gefahr Sie Tom da gebracht haben? Ihre Nachbarn, den Inspektor und mich – eigentlich jedermann?«
Veyron schloss die Augen und seufzte laut.
»Willkins, Sie müssen sich wirklich entspannen. Machen Sie sich keine Sorgen, die Gefahr ist fürs Erste gebannt.«
»Das ich nicht lache!«
»Sie kennen den Rest der Geschichte nicht. Ich habe Ihnen noch nichts von Mrs. Hardfists Wirken berichtet. Dazu komme ich gleich, doch zuerst will ich Ihnen erklären wie es mir gelang, Ihren und Toms Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Ich sagte schon, dass ich bereits vor dem Treffen über Fellows verschiedene Handlanger im Bilde war. Nun musste ich jedoch Gegenmaßnahmen ergreifen. Sie würden staunen, Willkins, wer mir noch den einen oder anderen Gefallen schuldet oder mir bereitwillig Unterstützung anbietet. Menschen, über die Sie die Nase rümpfen oder Sie belächeln. Meine unsichtbaren Freunde, so nenne ich sie, die Bettler, die Obdachlosen, die Graffiti-Sprayer oder die heimatlosen Ghetto-Kids.
Noch während ich auf dem Weg zum Treffen mit Fellows war, wurde bereits sein Untergang eingeleitet. Meine unsichtbaren Freunde kontaktierten Woods, gaben ihm meine Anweisungen weiter. Auf diese Weise wurde Toms Fluchtfahrrad bereitgestellt. Auch die drei Schläger lauerten ihm rechtzeitig auf, um einen Zugriff von Fellows Leuten zu verhindern und Verwirrung zu stiften. Ort und Zeit waren präzise geplant, ebenso das Auftauchen von Woods Leuten vor Ihrem Wohnhaus, Willkins. Auch Mr. Puttner war zur rechten Zeit da, um Tom die Tore seines Grundstücks zu öffnen. Ich hatte die ganze Verfolgungsjagd vorausberechnet, die Geschwindigkeiten des Fahrrads und des Verfolgungsfahrzeugs so genau wie möglich bestimmt. Alle Mechanismen haben funktioniert, keiner meiner vier Ausweichpläne musste eingeleitet werden.
Die einzigen kleinen Zutaten, die ich noch hinzufügen musste, war die Manipulation von Toms Smartphone und eine Webcam in seinem Rucksackverschluss, damit ich beobachten konnte, was hinter ihm geschah. Natürlich noch das Daring-Schwert für Notfälle. Ich selbst hielt mich, als Mrs. Hardfist verkleidet, den ganzen Morgen schon bereit. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja.«
Tom lachte laut auf, als er all das hörte. Er klatschte in die Hände.
»Phantastisch, echt cool. Das ist ja der Wahnsinn.«
Nur Jane blieb noch immer skeptisch, wenngleich sie sich ein anerkennendes Lächeln nicht ganz verkneifen konnte.
»Eine meisterhaft inszenierte Flucht, das stimmt. Aber das Hauptproblem löst sie natürlich nicht. Fellows ist immer noch dort draußen. Wenn es stimmt, was Sie über diesen Kerl sagen, sind seine Killer jetzt hinter uns her«, meinte sie.
Veyron stieß einen höhnischen Lacher aus, wurde aber gleich wieder ernst.
»Ich bezweifle sehr stark, das Mr. Fellows dazu überhaupt in der Lage sein wird«, erwiderte er.
Jane und Tom blickten ihn staunend an, was Veyron listig lächeln ließ.
»Ich sollte vielleicht endlich von Mrs. Hardfists Meisterstück erzählen. Was für eine tüchtige alte Lady! Nachdem ich Fellows kontaktiert hatte und Adresse und Uhrzeit unseres Treffpunkts übermittelt bekam, bemühte ich Mrs. Hardfist für einen kleinen Ausflug in die City. Ich hatte ein paar Stunden Zeit. Zweifellos würden Fellows Agenten bereits in jenem Restaurant warten, falls ich vorher mal vorbeischaue. Fellows ist kein Dummkopf. Mit einem Besuch von Mrs. Hardfist rechnet jedoch nicht einmal er. Eine krumme, übelriechende alte Schachtel, der man nicht zu nahe kommen will. Die watschelt in das Hilton, hinein in den Aufzug und rauf ins Restaurant, von jedermann ungläubig angestarrt. Sie marschiert von Kundschaft zu Kundschaft, murmelt, geifert, schnappt sich ein paar Zuckerpäckchen und steckt sie in die Taschen. Ein freundlicher Kellner kommt zu ihr und komplimentiert sie hinaus. Mrs. Hardfist beschimpft ihn als Rüpel und steigt in den nächsten Bus. Jedermann lacht über diesen Vorfall, auch Fellows Handlanger.
Zu Hause verwandelt sie sich dann zurück in Veyron Swift, der nun die Zuckerpäckchen nimmt und manipuliert. Er mischt dem Zucker ein Betäubungsmittel bei. Und zwar jenes, welches der gute, alte Mr. Tommerberry entwickelt hat.
Das war der einzig lohnenswerte Aspekt an diesem Reinfall: Ein neuartiges Sedativ, das ein temporäres Koma hervorruft – Tommerberrys bemitleidenswerter Versuch, den eigenen Tod zu fingieren. Ein versuchter Versicherungsbetrug, wie langweilig. Für uns alle jetzt jedoch ein Glücksfall. Ich nehme also die präparierten Zuckerpäckchen mit zu meinem Treffen mit Fellows. In einem Moment vorgespielter Nervosität und Ungeschicklichkeit, tausche ich die echten durch die falschen aus, schütte sie in meinen Kaffee, trinke dann jedoch aus Fellows Tasse. Dieser nun aus der meinen und tappt so in meine Falle. Tommerberrys Sedativ braucht ein paar Stunden, bis es zu wirken beginnt. Fellows kehrt in seine Absteige zurück und schläft ein; vor dem Fernseher, beim Pokern oder wo auch immer. Das Sedativ ruft einen komatösen Zustand hervor, Fellows Handlanger können ihn nicht mehr aufwecken. Zweifellos lassen sie ihn in ihrer Panik im Stich und fliehen. Wenn er wieder zu sich kommt – etwa heute Abend – steht er vor den Trümmern seiner Organisation. Er wird untertauchen müssen, denn Gregson und sogar der MI-5 sind ihm auf den Fersen. Vielleicht gelingt ihm die Flucht, aber ich bezweifle es. Das, meine liebe Willkins, ist dann das Ende der Geschichte und zweifellos auch das Ende von Mr. Charles Fellows.«
Seinen Triumph auskostend, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.
Von Jane war für den Rest der Fahrt nach Milton Keynes kein einziges kritisches Wort mehr zu hören. Misstrauisch blieb sie dennoch, als wollte sie nicht so ganz glauben, dass es Veyron wirklich gelungen war, innerhalb von Stunden jenen Mann restlos zu besiegen, den die ganze Ermittlerelite der Welt bislang vergebens zu verhaften versucht hatte.
Auch Tom war nicht ganz wohl in seiner Haut. In Kürze würden sie nach Elderwelt zurückkehren. Dieser unheimliche Consilian würde dort auf sie warten. Um ihm das Handwerk zu legen, würde es sicher mehr brauchen, als ein paar billige Tricks.
4. Kapitel: Ankunft in Fabrillian
Von Milton Keynes führte der Weg über die Landstraße nach Wisperton, einem kleinen Ort, der mitten in der Wildnis lag. Von Osten, Westen und Norden von Wald umgeben, grenzten zahlreiche Äcker und Pferdeweiden im Süden an die Ortsgrenzen. Insgesamt vierundzwanzig alte Häuser säumten die ebenso alte Straße, die wohl zum letzten Mal irgendwann in den Sechzigern ausgebessert wurde. Unzählige Schlaglöcher und der fast vollständig verblasste Mittelstreifen, machten jede Autofahrt hier zum Abenteuer. Es gab ein einziges Hotel, mit zusammengezählt sechs Fremdenzimmern im ersten Stock, die meisten nicht belegt. Das Erdgeschoss wurde von einem altmodischen, aber gemütlichen Pub ausgefüllt.
Sie erreichten Wisperton erst nach Einbruch der Dunkelheit und wären da nicht ein paar alte Straßenlaternen und die hell erleuchteten Fenster des Pub gewesen, sie wären glatt durchgefahren. Tom erinnerte sich noch gut an diesen Ort. Nichts hatte sich seit ihrem letzten Besuch geändert. Im letzten Jahr endete hier sein erstes großes Abenteuer, nun sollte das Zweite beginnen.
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