»Mein Gott, sie haben sie umgebracht! Sie haben sie einfach über den Haufen gefahren«, schrie Tom schockiert.
Dies wurde wohl gerade auch den beiden Fahrern bewusst. Er sah sie fluchend und wild gestikulierend streiten. Dann öffnete der Fahrer die Tür, um auszusteigen. Tom glaubte zu sehen, wie er unter sein schwarzes Sakko griff – zweifellos um dort eine Pistole herauszuziehen.
Auf einmal stand die alte Lady in der Tür, in der Hand eine Spraydose. Noch ehe der verblüffte Fahrer reagieren konnte, verpasste sie ihm eine Ladung Reizgas mitten ins Gesicht. Das schmerzerfüllte Gebrüll des Mannes ließ Tom regelrecht zusammenfahren. Der Typ krallte sich mit beiden Händen ins Gesicht, warf sich heulend hin und her, stürzte aus dem Fahrzeug. Der Beifahrer zog fluchend seine Waffe, doch die Lady war schon wieder verschwunden.
Tom wollte sich die Augen reiben, er verstand nicht, was da überhaupt geschah. Plötzlich war die alte Schachtel wieder da, diesmal auf der anderen Seite des Wagens. Sie riss die Tür auf, packte den Waffenarm des Beifahrers, drehte ihn mit einem schaurigen Knacken herum, entwand dem Mann die Waffe. Sie zog den brüllenden Mistkerl aus dem Wagen und hieb ihm den Kopf heftig gegen das Wagendach. Ohne weiteren Widerstand brach der Mann zusammen. Wie aus dem Nichts hielt die Lady plötzlich zwei Handschellen in der Hand, fesselte dem Mann die Arme an seine Beinknöchel; überkreuz. Danach huschte sie blitzschnell um das Auto herum und verfuhr mit dem Boden liegenden, vor Schmerz heulenden Fahrer genauso. Sie zog den Mann hoch und stieß ihn hinüber zu seinem bewusstlosen Kameraden.
Tom hörte bereits Polizeisirenen und das prägnante Heulen eines Krankenwagen. Die alte Lady, die gerade zwei gemeingefährliche Verbrecher ausgeschaltet hatte, kümmerte das nicht weiter. Sie setzte sich hinter das Steuer des Jaguars, machte die Türen zu und fuhr los. War das zu fassen? Die Alte klaute gerade das Auto der Schurken!
»Ich glaub, ich bin im falschen Film«, japste Tom fassungslos.
Der Wagen hielt neben ihm, die Lady öffnete die Beifahrertür.
»Einsteigen, junger Mann, sonst gibt’s den Hosenboden voll!«, krächzte sie ihn herrisch an. Tom fielen fast die Augen aus dem Kopf.
Unter dem albernen, violetten Lidschatten und dem knallroten Lippenstift, weiß geschminkt, übersät mit Altersflecken und der zottligen grauen Perücke, hätte er sie fast gar nicht erkannt.
Die wehrhafte Dame war niemand anderes als sein Patenonkel, Veyron Swift!
Tom sprang sofort ins Auto, schnallte sich an und Veyron fuhr los.
»Was ist da eben passiert? Was soll das alles? Warum sind Sie als Großmutter verkleidet«, fragte Tom. »Was wollten diese Typen überhaupt von mir?«
»Von dir? Gar nichts. Sie wollten etwas von mir. Wegen Prinzessin Iulia. Ich sagte ja bereits, dass sich die junge Dame in Gefahr befindet. Ich fürchte, wir wurden in diese Sache gegen unseren Willen hineingezogen. Aber ich habe alles genauestes geplant«, erklärte Veyron. Tom schaute durch die Heckscheibe hinaus. Zahlreiche Passanten hatten sich nun um die ausgeschalteten Kidnapper versammelt, Polizei und Krankenwagen waren auch schon da. Veyron bog in eine Seitenstraße ab.
»Gregsons Männer. Zum ersten Mal pünktlich. Der Mann macht sich noch«, sagte er und beschleunigte.
»Wo wollen Sie überhaupt hin?«, wollte Tom wissen.
»Nach Elderwelt. Aber jetzt müssen wir erst einmal Willkins abholen. Die Sache ist noch nicht gänzlich ausgestanden, Tom.«
Zwanzig Minuten später hielten sie vor 270b Reigate Street. Tom und Veyron stiegen aus und klingelten. Willkins ließ die beiden ein. Mit dem Lift fuhren sie hoch in den vierten Stock, wo Jane sie bereits erwartete. Sie trug wieder nur Jeans und Bluse, an den Füßen Turnschuhe. Neben ihr stand ein mächtig bepackter Rucksack, an dem ein Paar Bergschuhe und eine dicke Jacke baumelten. Jane fiel die Kinnlade nach unten, als sie Veyron in seinem Großmutter-Aufzug erkannte. Sie begann zu lachen, wundervoll hell und befreit.
»Wollen Sie kleine Kinder erschrecken? Halloween ist doch erst in drei Wochen«, kicherte sie.
Veyron zog sich die staubige Perücke vom Kopf, warf sie ihr entgegen. Sie fing sie auf und musste nur noch lauter lachen. Ohne darauf einzugehen, packte er den Rucksack und schleppte ihn zum Aufzug.
»Sie sind albern, Willkins! Dabei sind Sie gar keine siebzehn mehr. Los jetzt, kommen Sie schon in den Lift, wir haben keine Zeit zu verlieren«, rief er ihr zu.
Ratlos schenkte sie Tom einen fragenden Blick, doch der konnte nur mit den Schultern zucken.
»Wir haben es eilig, ein paar Typen sind hinter uns her«, klärte er sie auf.
Jane schloss sofort die Tür und sperrte ab.
»Ich hoffe, ich hab‘ nichts abzuschalten vergessen. Wenn meine Bude abfackelt, zieh ich bei euch beiden ein. Dann müsst ihr mich monatelang aushalten«, beschwerte sie sich und stieg zusammen mit Tom in den Lift.
Unten auf der Straße schlug Jane sofort den Weg zu ihrem alten, feuerroten VW Golf ein, doch Veyron packte sie am Handgelenk, zog sie zu dem schwarzen Jaguar. Ohne weitere Worte warf er ihren Rucksack in den Kofferraum.
»Warum nehmen wir nicht meinen Wagen? Wo haben Sie überhaupt dieses Auto her? Sie besitzen doch gar keines.«
Veyron machte ihr die Beifahrertür auf und ließ sie einsteigen. Tom musste auf der Rückbank Platz nehmen, was ihm gar nicht passte (für gewöhnlich saß er lieber vorne). Veyron stieg ein und startete den Motor.
»Ihr Wagen ist verwanzt«, sagte er mit finsterem Ernst.
Jane schaute ihn skeptisch an. »Woher wissen Sie das? Was ist denn überhaupt los?«
Veyron deutete auf die andere Straßenseite, wo ein schmutziger Van mit verwaschener, blauer Firmenaufschrift stand.
»Ist Ihnen der Vauxhall gegenüber noch nicht aufgefallen? Der parkt seit gestern Nacht da, seit Tom bei Ihnen übernachtet hat. Drinnen sitzen zwei Männer, die den Auftrag haben, ihn zu entführen. Ich bin sicher, die würden nicht zögern, Sie zu töten. Das sind Profis, Söldner und Berufskiller. Gerade eben versuchen sie mit ihrem Auftraggeber Kontakt aufzunehmen, da unser unerwartetes Auftauchen, noch dazu in diesem Wagen, nicht zu ihrem Plan gehört.«
Jane machte große Augen. Sie beobachtete den Lieferwagen jetzt mit professionellem Interesse. Die Polizistin in ihr war geweckt.
»Okay. Was haben Sie vor?«
»Ganz einfach: Ich warte.«
»Warten? Worauf?«
Er deutete auf die Straße, wo sich ein alter Sportwagen näherte, aus dem lauter Rap zu hören war. Drinnen saßen vier Jugendliche, mit dicken Muskeln bepackt, überall tätowiert und Sonnenbrillen auf den Nasen.
»Darauf. Pünktlich wie bestellt.«
Die vier Jungs parkten ihren Wagen direkt neben dem Van.
Endlich fuhr Veyron los. So schnell es der Motor des verbeulten Jaguars zuließ, raste er die Straße hinunter, dann bog er in Richtung Innenstadt ab. Tom und Jane beobachteten den Sportwagen durch die Heckscheibe. Er blockierte immer noch den Weg des Lieferwagens. Zwei Männer stiegen aus und beschwerten sich, doch die Jugendlichen im Sportwagen weigerten sich wegzufahren.
»Simon Woods und seine Jungs. Üble Burschen, aber sie schuldeten mir wegen des Trolls von Woking, der drei aus ihrer Gang aufgefressen hat, noch einen Gefallen«, erklärte Veyron mit einem amüsierten Lächeln.
Jane wirkte alles andere als begeistert.
»Sie lassen sich mit diesen Typen ein? Das sind Gangster, Veyron. Typen von der allerschlimmsten Sorte.«
»Irrtum, Willkins. Diese Jungs und ihre Familien werden in Ghettos angesiedelt, erhalten keine vernünftige Bildung und keine ordentlichen Jobs. Man lässt sie einfach links liegen, nur um dann noch kräftig auf sie draufzuhauen, wenn mal was schiefläuft. Niemand ist da, um diesen Menschen einen Weg in die Zukunft zu zeigen. Es ist unsere Gesellschaft, die von der allerschlimmsten Sorte ist«, konterte er mit ungewöhnlich scharfem Ton.
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