Veyrons Handywecker sprengte sie um Punkt fünf Uhr mit Reel 2 Real’s I like to move it auf voller Lautstärke aus den Federn. Waschen und anziehen, gefolgt von einem kurzen Frühstück. Anschließend alles zusammenpacken und raus in die Finsternis. Jane und Tom hatten ihre Rucksäcke geschultert, während Veyron lediglich seine altmodische, rot karierte Reisetasche mitnahm.
Um 6:30 Uhr trafen sie sich mit Faeringel vor dem Hotel, es war noch immer dunkel, nur ganz dezent ließ sich im Osten ein Sonnenaufgang erahnen. Das ganze Dorf lag im dichten Nebel, so dass Tom lediglich zwei andere Häuser ausmachen konnte. Nirgendwo brannte Licht, alles schien noch zu schlafen. Ein Eindruck der täuschen konnte. Tom hoffte, dass ihnen nicht irgendwo Fellows Söldner auflauerten.
Faeringel setzte sich ohne weiteres Wort in Bewegung, die anderen folgten ihm. Sie gingen eine Zeit lang die Straße entlang, die sie immer tiefer in den Nebel führte. Nach einigen Kilometern bog Faeringel schließlich einfach in die Felder ab. Ohne die geringste Ahnung, wo sie jetzt hingingen, folgten ihm Tom, Veyron und Jane.
Nach einer Weile wandte sich Jane an Veyron. Die Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Ich weiß, Sie haben es mir schon ein paar Mal erklärt, aber ich verstehe das mit Elderwelt und diesen Durchgängen immer noch nicht«, gestand sie.
Tom war überrascht, dass sein Pate diesmal gar nicht die Augen verdrehte oder entnervt aufstöhnte wie es sonst seine Art war. Ganz geduldig versuchte er es ihr zu erklären.
»Vor vielen Jahrtausenden gab es einen mächtigen Zaubererorden, die Illauri. Als die Welt vor über dreitausend Jahren in großer Gefahr war, schufen sie einen unsichtbaren Schutzschild, der die Länder der magischen Wesen von der Welt der Menschen trennte. Elderwelt und die unsrige liegen nebeneinander, nur können wir es nicht sehen oder mit all unserer modernen Technologie aufspüren. Für uns existiert Elderwelt nicht, andersherum hält man in Elderwelt unsere Welt ebenfalls für einen Mythos. Die Menschen dort nennen sie Fernwelt und nur die Weisen wissen um ihre Existenz. Um die Verbindung zwischen den Welten nicht gänzlich abzubrechen, errichteten die Illauri eine Anzahl von Durchgängen, meist in Form von Torbögen, um von einer Welt zur anderen zu gelangen. Ich weiß selbst nicht genau wie diese Durchgänge funktionieren. Sie können zum Beispiel hier in England hineingehen und kommen auf der anderen Seite irgendwo in der Wüste heraus. Man durchschreitet also nicht nur diese unsichtbare Trennwand, sondern legt zugleich oft auch viele tausend Meilen zurück. Es ist Zauberkunst von allerhöchster Macht.«
Jane dachte still darüber nach. Schließlich deutete sie mit einem Nicken auf ihren jugendlichen Führer.
»Und die Elben bewachen diese Durchgänge? Oder was sonst sucht ein Elb in unserer Welt«, fragte sie Veyron leise.
Es war jedoch Faeringel, der ihr antwortete. Er ging viele Meter voraus, war nur als Schemen im dichten Nebel zu erkennen. Offenkundig besaß er ein sehr empfindliches Gehör.
»Der Durchgang in der Nähe von Wisperton führt direkt in unsere Hauptstadt, Lady Jane. Schon immer haben wir auf diesen einen Durchgang geachtet. Auf Befehl der Königin kümmern wir uns auch um Wisperton und seine Bewohner. Ihr Wohl ist unser Wohl, dabei wissen die Menschen von unserer Existenz nichts. In Wisperton findet Ihr jedoch noch immer ein paar alte Geschichten, die über unser Wirken berichten. Man hält sie heutzutage für Kindermärchen und mittelalterliche Mythen. Die Talarin erinnern sich dagegen noch genau an die alten Tage.«
Jane biss sich verlegen auf die Lippe, aber Veyron schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. Tom, der das Schlusslicht ihrer kleinen Gruppe bildete, schloss rasch zu ihr auf.
»Mach dir keine Gedanken, ich war auch völlig planlos, als ich das alles kennenlernte. Es gibt noch viele andere Durchgänge, manche bewacht, andere nicht. Ich kann‘s schon gar nicht mehr erwarten, endlich wieder nach Fabrillian zu kommen. Es wird dir gefallen, es ist wie Urlaub«, sagte er. Seine Begeisterung wuchs stetig an, drängte ihn zu mehr Eile. Am liebsten wäre er einfach losgerannt - wenn er nur wüsste, wohin in diesem ganzen Nebel.
Als sie auf den alten Eisenbahndamm stießen, an den Tom sich noch gut erinnern konnte, war es bereits deutlich heller. Heute schien die Sonne allerdings besondere Probleme zu haben, den Nebel zu durchdringen. Er begann sich zu fragen, ob da nicht eventuell irgendeine Magie im Spiel war. Der Damm ragte wie eine hohe Wand vor ihnen auf, über und über mit Gras überwuchert. Züge fuhren hier schon lange keine mehr. Die Schienen hatte man schon vor Jahrzehnten demontiert.
Ohne Mühen sprang Faeringel hinauf. Die anderen konnten nur staunen und ihm hinterher kletterten. Er machte keine Anstalten auf sie zu warten und so mussten sie laufen, um ihn wieder einzuholen. Der Damm führte geradewegs in einen dichten Wald. Der Nebel verwandelte die teilweise schon gänzlich entlaubten Bäume und Sträucher in bizarre, schwarzhäutige Gestalten. Mit ihren Dornen und Ästen wollten sie den Wanderern scheinbar den Weg versperren. Mit aller Vorsicht folgten sie Faeringel in das dichte Unterholz. Nicht nur einmal blieben sie mit ihren Jacken und Rucksäcken im Geäst hängen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte vor ihnen ein Eisenbahntunnel auf, der einem schwarzen Rachen gleich, durch einen felsigen Hügel führte. Hier drängte sich der Wald besonders dicht, links und rechts vom Dammweg war keinerlei Durchkommen mehr. Faeringel blieb vor dem schwarzen Tunnel endlich stehen und wartete, bis die seiner Meinung nach unbeholfenen, lärmenden Menschen zu ihm aufgeschlossen hatten.
»Hole nun den Erlaubnisstein hervor, Tom«, forderte er den Jungen auf.
Tom griff in seine Hosentasche und fingerte den kleinen blauen Kiesel heraus. Er zeigte ihn Faeringel, der zufrieden nickte. Ohne ein weiteres Wort trat er in den Tunnel und wurde von der Schwärze verschluckt. Veyron schickte sich an, ihm zu folgen und auch Tom wollte losmarschieren, doch Jane verharrte wie versteinert vor dem Eingang. Die beiden warfen ihr überraschte Blicke zu. Tom konnte sehen, dass sie Angst hatte. Sie zitterte förmlich.
»Die Welt wird nie mehr die Gleiche sein, wenn ich da hineingehe, oder?«, fragte sie halblaut.
Tom hatte keine Ahnung was er darauf erwidern sollte. Er verstand ja nicht einmal, wie sie das überhaupt meinte. Veyron schien jedoch zu verstehen. Er lächelte, diesmal ehrlich mitfühlend.
»Die Welt ist niemals die, für die wir sie halten. Mit jeder neuen Erfahrung verändert sie sich, mit jeder Reise die wir tun, bekommt sie ein neues Gesicht. Ich weiß, Sie fürchten um Ihr Weltbild, Ihren Glauben und alles, was Sie für richtig halten. Haben Sie keine Furcht, Willkins. Das Einzige, was passieren kann ist, dass Sie an Wissen und Weisheit gewinnen. Das ist niemals eine verkehrte Sache.«
Jane dachte einen Moment darüber nach. Eher widerstrebend gab sie ihr Zögern auf. Sie trat zwischen die beiden und gemeinsam schritten sie hinein in die Finsternis.
Die Rückkehr nach Fabrillian hatte sich Tom ganz anders vorgestellt. Sie marschierten eine Zeitlang durch den schwarzen Tunnel und schlagartig, ohne jede Vorwarnung, wich die Dunkelheit hellem Sonnenlicht. Äste und Blätter klatschten ihm ins Gesicht.
Er schlug um sich, traf Jane am Ohr, die empört seinen Namen rief und ihn anrempelte. Faeringel musste lachen, als er die drei Menschen in den Schlingen von Efeu und Wein zappeln sah. Ein kurzer Augenblick verging, bis sich Tom wieder beruhigen konnte. Nun sah er, dass sie tatsächlich in Fabrillian angekommen waren, dem Reich der Elben Elderwelts, den Talarin , wie sie sich selbst nannten.
Sie befanden sich auf einer großen Terrasse, umgeben von einem Ring Statuen der großen Künstler und Denker des Elbenvolkes. Kletterpflanzen rankten sich an ihnen hoch, verdeckten einige vollständig. Tom, Jane und Veyron traten zwischen zwei großen Statuen hervor, auf deren Schultern sich ein alter, steinerner Torbogen stützte.
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