Überhaupt hat er so wunderschöne Sachen gesagt. Dann der Kuss. Vanillakram. Mein Meister würde mich bestrafen, wenn ich mir einen Kuss wünschen würde – zu Recht. Ich habe mich nicht für derlei Dinge zu interessieren. Die Wünsche meines Meisters sind, was mich kümmern sollte. Ich bin dazu da, ihm zu gefallen, ihm zu dienen und von ihm benutzt zu werden. Aber jede Strafe, die mich für einen derartigen Wunsch ereilt hätte, wäre nichts im Vergleich zu der, die mich jetzt erwartet.
Denn ich habe keine Fotos. Fotos davon, wie der Fremde mich fesselt oder auspeitscht oder benutzt. ER wusste gar nicht, welche Wünsche der Unbekannte haben würde. Ich sollte gehorchen, egal was er von mir verlangen würde, die kleine Kamera in meiner Halskette aktivieren und Bilder machen. Aber einen Kuss kann ER nicht gemeint haben.
Doch das bringt mich auf eine Idee. Ich würde die Erinnerung an diese Begegnung gerne für mich behalten wie einen kleinen Schatz, an dem ich mich erfreuen kann, wenn mein Meister mich stundenlang in die winzige Strafkiste sperrt. Aber vielleicht wird ER mir ja gestatten, den fremden Herrn noch einmal anzusprechen, wenn ich ihm von dem Kuss erzähle. Denn der Unbekannte kann mich nicht völlig abstoßend finden, wenn er mich so küsst.
Wahrscheinlich weist er mich erneut ab. Doch möglicherweise küsst er mich zuvor ja noch mal. Sagt noch einmal so schöne Sachen. Danach könnte ich jede Strafe ertragen, die mein Meister sich ausdenkt, ganz bestimmt.
Ja, so mache ich es.
Der Regen wird stärker, und ich stehe vor der Adresse, die ER mir genannt hat. Hierhin soll ich kommen, wenn es mir gelungen ist, Kontakt zu dem Unbekannten aufzunehmen. Aber was ist das hier? Schmutzige große Scheiben, hinter denen die Dunkelheit lauert. Ein zerfetzter roter Teppich vor einer Eingangstür, die von zwei verdorrten Pflanzen in fleckigen Kübeln flankiert wird. Hier soll ER sein? Ich habe mich in der Adresse geirrt. Was jetzt? Mein Meister wird wissen, wo ER ist. Doch ich habe erneut bewiesen, wie unfähig ich bin. Nie und nimmer bekomme ich eine zweite Chance.
Ich lege meine zitternden Hände an die Tür und versuche, hineinzusehen, da ertönt ein Zischen. Ich zucke heftig zusammen, als über mir eine blaue Neonröhre in Form eines Papageis zum Leben erwacht. Stehe ich vor einer Zoohandlung?
Fast gleichzeitig gibt die Eingangstür nach und schwingt vor mir auf. Erschrocken schnappe ich nach Luft. Drinnen ist es stockdunkel. Nein, ganz weit hinten scheint ein Licht zu sein. Bin ich doch richtig?
Ängstlich verharre ich auf der Schwelle, als sich aus der Schwärze des Raumes eine scheußliche Gestalt herausschält. Groß und breit wie ein Schrank, massiger noch als mein Meister. Doch nicht deswegen entkommt mir ein entsetztes Keuchen. Sondern weil trotz der Dunkelheit unverkennbar ist, dass das Gesicht des Mannes furchtbar entstellt ist. Seine rechte Wange ist ein einziges runzeliges Narbengewebe, das rechte Ohr und die Haare auf dieser Seite fehlen komplett. Der Mann muss einen schrecklichen Unfall gehabt haben. Dennoch schaffe ich es nicht, Mitleid zu empfinden, zu abstoßend sieht er aus. Ich taumle einen Schritt zurück.
Der Mann schnaubt nur unwillig und winkt mich wortlos herein. Ich wage es nicht, mich zu widersetzen. Das ist genau so ein Mann, den ER in seinem Gefolge haben würde. Mit weichen Knien mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein. Bleibe stehen und versuche, irgendwas zu erkennen.
Die Luft ist abgestanden und schal. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich stehe in einem riesigen leeren Raum, einer Halle nicht unähnlich. An einer Wand stapeln sich Möbelstücke, bedeckt von einer Plastikfolie. Das Licht scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ich mache zwei zögernde Schritte in diese Richtung, als hinter mir die Eingangstür mit einem Knall zufällt. Ich fahre zusammen, mein Herz setzt einen Moment aus, bevor es wie verrückt in meiner Brust hämmert. Nur mühsam kann ich ein Zittern unterdrücken. Das ist alles so unheimlich hier.
Der furchterregende Mann ist jetzt hinter mir, ich höre seinen schweren Atem, rieche kalten Zigarettenrauch und Schweiß. Angetrieben von meinem schweigenden Verfolger, stolpere ich vorwärts.
Unsere Schritte hallen unheimlich durch den Raum, während wir immer weiter nach hinten gehen. Außer dem Schnaufen in meinem Rücken höre ich jetzt auch die zarten Klänge eines Klaviers, untermalt von dem Plätschern eines Wasserfalls. Je näher ich dem Licht komme, desto deutlicher riecht es nach Bratfett und Knoblauch. Mehrere ausladende Kübelpflanzen versperren mir den Weg, ich schlüpfe vorbei, und dann kann ich endlich sehen, worauf ich zugelaufen bin.
Vor mir steht ein großer, runder Tisch, stilvoll eingedeckt mit einer schweren, bodenlangen weißen Tischdecke, einem Kerzenleuchter und langstieligen Weingläsern. Ein Mann sitzt dort, vor sich einen Teller mit vor Öl triefenden Riesengarnelen. Ohne das reichlich vorhandene Silberbesteck zu beachten, grabscht der Mann sich eine mit den Fingern und schiebt sie sich in den Mund.
ER.
Ich schlucke.
»Nicht so schüchtern, troietta «, spottet ER mit vollem Mund. »Ist der Hurensohn endlich aufgetaucht, ja? Was hast du denn Schönes für mich?«
Doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich habe IHN zuvor schon gefürchtet, doch in dieser seltsamen Umgebung ist es noch schlimmer.
»Komm schon, steh da nicht so ungemütlich herum. Timo, nimm ihr den Mantel ab.«
Der grausige Mann reißt mir den Mantel förmlich von den Schultern, kaum dass ich die Knöpfe geöffnet habe. Ohne das dicke Kleidungsstück fühle ich mich noch schutzloser. Ich verschränke die Arme vor der Brust.
»Nun?«, fragt ER.
Ich öffne den Mund, doch es kommt einfach kein Ton heraus. Grobe Hände packen meine Schultern, schütteln mich kräftig.
»Aber, aber, Timo! Du erschreckst sie ja«, sagt ER sanft, um mich dann anzufahren: »Rede endlich, stronza !«
Stammelnd versuche ich zu erklären, was geschehen ist. ER verengt seine Augen zu kleinen Schlitzen. Sieht immer wütender aus.
»Bestimmt wird er das nächste Mal …«, quäke ich mit versagender Stimme.
» E basta! «, unterbricht ER mich harsch. »Vergiss es. Du hattest deine Chance. Ich warte nicht noch mal tagelang, bis D’Vergy geruht, den Salon erneut aufzusuchen. Dieser Schwächling wird so oder so bald nach meiner Pfeife tanzen.«
D’Vergy? Ist das der Name des Fremden? »Aber … er hat mich geküsst …«
»Oh, wie romantisch!«, höhnt ER . »Hast du dein kleines, dummes Herz an D’Vergy verloren, ja? Jetzt pass mal gut auf: Dieser codardo hat dich nicht etwa geküsst, weil er dich so süß findet. Sondern weil er ein Weichei ist, ein Schlappschwanz, der nicht mal genug Eier in der Hose hat, um dir zu sagen, dass du dich verpissen sollst.«
Schlimmer als jede Ohrfeige fühlen sich die Worte an. Doch dann sehe ich den Fremden wieder vor mir, wie er sich zu mir herunterbeugt, wie er mich mit seinen dunklen Augen intensiv ansieht. Da begreife ich etwas: ER irrt sich! D’Vergy ist nicht schwach, sondern so stark und souverän, dass er sich nichts vergibt, wenn er jemanden wie mich küsst. Aber das muss ER nicht wissen. Dass ich nichts sage, ist mein Dankeschön an den Fremden.
Ich spüre so etwas wie einen kleinen Triumph, doch den treiben mir die nächsten Worte, die ER sagt, gleich wieder aus.
»Tja, was mache ich denn jetzt mit dir, troietta ? Da habe ich dich deinem Meister abgekauft, und du nützt mir gar nichts …«
Was? Mein Meister nimmt mich nicht zurück?
ER lacht verächtlich.
»Wusstest du gar nicht, eh? Timo, kannst du was mit ihr anfangen? Ich schenke sie dir.«
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