Jetzt wird sie unverschämt. Ich denke allerdings gar nicht daran, mich von ihr provozieren zu lassen. »Mayra Jennings«, sage ich dunkel und eine Oktave tiefer als zuvor. »Jetzt holen Sie erst einmal ganz tief Luft, verstanden?«
Eigentlich rechne ich mit einer neuen Schimpftirade und habe schon so halb beschlossen, beim nächsten Mal Kommissar Schneider mit ihr reden zu lassen, vielleicht kommt der besser mit ihr klar – doch dann ist es tatsächlich still am anderen Ende der Leitung. Atmet sie wirklich durch? Interessant.
»Frau Jennings«, sage ich ruhig, aber streng. »Nicht Sie müssen dafür sorgen, dass Silvers’ Mörder verurteilt wird, darum kümmere ich mich. Lassen Sie los. Es ist schwer, aber Sie werden sich besser fühlen.«
»Ähm …«, kommt es ein wenig unsicher aus dem Hörer.
»Sie brauchen nicht darauf zu antworten. Versuchen Sie einfach, mal eine Pause zu machen.«
Dann lege ich auf.
Reichlich verspätet wird mir klar, dass mich dieses Telefonat keinen Schritt weitergebracht hat. Wie konnte das denn passieren? Ich will Mayra Jennings wirklich nicht absichtlich ärgern. Aber womöglich bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich an die Informationen kommen will, die sie mir vorenthält.
Aber andererseits – sie hat auf mich reagiert. Oder? Unsinn. Die Idee, Schneider mit ihr sprechen zu lassen, verwerfe ich dennoch. Obwohl mir das vermutlich einigen Ärger ersparen würde, aber in diesem Augenblick ist mir das völlig egal.
München-Laim, 18. Oktober 2019, abends
Ich atme immer noch tief ein und aus, als mir auffällt, dass die Verbindung längst tot ist. D’Vergy hat einfach aufgelegt. Ich lasse den Telefonhörer fallen, als hätte ich mich daran verbrannt.
Blödmann!
Was war das eigentlich gerade? Was hat dieser selbstgefällige Scheißkerl mit mir gemacht? Hypnose durchs Telefon? Arschloch!
Na gut, ich war vielleicht nicht superhöflich, aber was ruft der auch in so einem bescheuerten Moment an? Meine kleinen Schweinereien gegen die Famiglia kann ich leider nur dann einfädeln, wenn Liliane Feierabend gemacht hat und meine Leibwächter vor der Glotze hocken, weil ich die beiden da wirklich nicht mit hineinziehen will. Wenn ich dann endlich loslege, kann ich kein blödes Gelaber eines neunmalklugen Oberstaatsanwalts brauchen.
Arroganter Wichtigtuer! Atmen? Pah!
Okay, es hat gutgetan. Früher habe selbst gerne zu diesem Mittel gegriffen, um mich vor einem schwierigen Gespräch zu beruhigen. Aber seit Tosh tot ist, schmerzt jeder Atemzug. Alle Atemtechniken, die ich kenne, sind für die Katz.
»Darum kümmere ich mich«, hat D’Vergy gesagt, und einen wundervollen Moment lang gebe ich mich der Vorstellung hin, dass ich wirklich alles dem Oberstaatsanwalt überlassen könnte. Die ganze Last, die auf meinen Schultern liegt, einfach an ihn weiterreichen könnte. Soll er doch für Cortones Verurteilung sorgen und in den Kampf gegen die Famiglia ziehen. Ein selbstgerechter Snob mag D’Vergy ja sein, aber ein Waschlappen, der vor Carlo den Schwanz einzieht, ist er sicher nicht.
Doch dann fällt mir ein, dass der Herr Graf möglicherweise nichts davon hält, an der ein- oder anderen Stelle mit einem kleinen Hinweis auf die nicht ganz so weißen Westen der Entscheidungsträger die Aktionen gegen die Famiglia ein bisschen zu forcieren. Natürlich erpresse ich niemanden, nicht so richtig, ich nenne es lieber Motivation. Ich würde mich auch nie auf Carlos Niveau herablassen und wirklich jemanden anschwärzen, deswegen ist es ja auch nicht so schlimm. Oder? Ich ruiniere keine Leben, so wie er.
Der Oberstaatsanwalt sieht das wahrscheinlich anders. Der würde bestimmt von Erpressung sprechen. Überkorrekter Blödmann! Also sollte ich wohl besser dafür sorgen, dass er mich nicht erwischt. Passend zu diesem Gedanken kehren auch die Kopfschmerzen, die mich unerklärlicherweise ein paar Minuten in Ruhe gelassen haben, zurück. Ich tunke einen Finger in Lilianes Geheimwaffe, eine Dose mit weißem Tigerbalsam, und massiere mir die Schläfen damit. So richtig hilft es nicht, aber immerhin wird Liliane glücklich sein, und schlimmer wird es auch nicht.
Was dieses Hämmern im Kopf anheizt, ist eher der Gedanke, der Oberstaatsanwalt könnte herausfinden, dass Carlo nicht geschossen hat. Weil er meine Meinung nicht teilen wird, dass es egal ist, wer denn nun abgedrückt hat. Carlo ist an allem schuld. Punkt!
Nein, unmöglich kann ich den Fall allein D’Vergy überlassen. Wenn die schönen Indizien, von denen es doch wirklich mehr als genug gibt, nicht ausreichen, um für Carlos Verurteilung zu sorgen, dann soll der Boss der Famiglia wenigstens vor einem Scherbenhaufen stehen, wenn er rauskommt. Ich rufe erneut die Mail auf, die ich gerade begonnen habe, als der Anruf des Oberstaatsanwalts mich unterbrochen hat.
»Du glaubst also, Steuern und Sozialabgaben für eure Bauarbeiter seien nichts als Kinkerlitzchen, mit denen sich die Famiglia nicht abgeben muss, Carlo?«, flüstere ich. »Dann wollen wir doch mal sehen, was die Zollfahndung dazu sagt!«
München-Altstadt, 18. Oktober 2019, abends
Nachdem ich mir die Cortone Akten noch mal angesehen habe, ist es definitiv zu spät, um sich auf die Suche nach einem Trainingspartner zu machen, der sich spontan auf einen kleinen Übungskampf einlassen würde. Wahnsinnig gerne würde ich mich wieder mal bis zur Erschöpfung verausgaben, vielleicht sogar ein kleines Stückchen darüber hinaus. Mit einem weiteren Blick auf die Uhr seufze ich – morgen! Und nachdem Dad aus unerfindlichen Gründen immer noch nicht geruht, Italien zu verlassen, um mir in dem riesigen, leeren Bungalow Gesellschaft zu leisten, beschließe ich, Sonjas Salon aufzusuchen, anstatt allein zu Hause herumzusitzen. Wenn ich es schaffe, irgendwo auf andere Gedanken zu kommen, dann wahrscheinlich dort.
Ich kenne Sonja seit vielen Jahren. Sie kam in unser Haus, kurz nachdem mein Vater beschlossen hatte, dass ich den Tod meiner Mutter vielleicht überwinden würde, wenn wir weit weg von Italien ganz neu anfangen würden. Sonja besuchte uns, da Dad ein Gemälde schätzen lassen wollte, und er war sofort mehr als angetan vom Kunstverstand der jungen Galeristin.
Seitdem haben wir uns häufig getroffen. Dass wir noch eine ganz andere Leidenschaft teilen, merkten wir erst Jahre später, als ich das erste Mal den Club The Prison betrat und mich unversehens der Kunstsachverständigen im Outfit einer Domina gegenübersah. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wessen Schock größer war.
Neben ihrer Galerie führt Sonja seit ein paar Jahren einen verschwiegenen Salon und es wird wirklich höchste Zeit, dass ich mich da mal wieder blicken lasse. Auch wenn mir gerade nicht unbedingt der Sinn nach Intimitäten steht. Aber die handverlesenen Gäste, die lockere Atmosphäre und der niveauvolle Umgang mit ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben machen einen Besuch in Sonjas Salon zu einem einzigartigen Erlebnis. Ich könnte bei einer Session zusehen – oder mir einfach nur ein paar Drinks genehmigen und mich unter Gleichgesinnten entspannen.
Außerdem muss ich mich vor Sonja nicht verstellen. Sie kannte mich als verstörten Knaben, sie kannte mich als jungen, wilden Dom, der sich auf der Suche nach sich selbst fast verloren hätte, und sie kennt den Juristen ohne Privatleben, der all diese Phasen zum Glück hinter sich gelassen hat.
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