Der Rückweg zu meinem Baum war beschwerlicher als ich dachte, denn der Rucksack war inzwischen richtig voll. Der Morgen graute schon, als ich wieder bei ihm eintraf. Den Baum samt schwerem Rucksack zu erklimmen, stellte mich vor eine erneute Schwierigkeit, nach drei Anläufen gelang mir jedoch auch dieses Unterfangen. Ich verstaute das Obst sicher, ehe ich mich in der Astmulde verkeilte, um noch ein wenig zu schlafen. Es gelang mir nicht. Ich war viel zu aufgeregt und verspürte eine gewisse Genugtuung, weil mir gelungen war, was ich mir vorgenommen hatte. Das erste Mal, seitdem ich unter der Linde erwacht war, empfand ich eine gewisse Zufriedenheit.
Während ich so dasaß, die Tierwelt unter mir beobachtend, und während das Morgenrot zu erglühen begann, beschloß ich, der Sicherheit wegen alle paar Nächte einen anderen Baum zu suchen. Die Aussicht darauf war wenig verlockend. Selbstverständlich mußte der Standort im Umkreis meiner Obstbaumjagdgründe bleiben und trotzdem weit genug von der Burg entfernt, um nicht wieder aufzufallen. Es war seltsam, wie wohl ich mich jetzt fühlte, nachdem ich mich satt gegessen hatte. An diesem Morgen erschien mir alles nur halb so schrecklich, und selbst die Gedanken, daß ich damit rechnete, weitere Tage so zubringen zu müssen, schreckten mich weniger. Ich begann den Tag mit neuer Kraft und voller Tatendrang.
Talivan hatte die letzte Nacht schlecht geschlafen. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu der seltsamen Frau zurück, obwohl er selbst sie nie gesehen hatte. Und seit einer guten Woche auch kein anderer. Trotzdem beschäftigte sie ihn. Er war sich ihrer Blicke nur zu bewußt gewesen. Außerdem beunruhigten ihn die Ritter Mruad und Rioc. Ihr Besuch letzte Woche war unheilverkündend und bedrohlich für das Reich von Artus gewesen. Er wußte genau, daß sie die Lage auskundschaften wollten, und sie würden weitere Burgen aufsuchen. Rioc hatte er noch nie leiden können. Mruad war ein Mitläufer, doch gefährlich waren sie beide. Sie verkörperten Grausamkeit und Gefühlkälte.
Talivan sprach empfindsam darauf an, seit der Folterung. Er schüttelte sich unwillkürlich. Die beiden Ritter waren unberechenbar in ihrer Art, das machte sie um so gefährlicher. Nun zogen sie wie ein giftiger Lindwurm durchs Land und vergifteten jedes Herz, das sich ihren schändlichen Worten öffnete. Sein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken. Er war froh, daß er gleich einen Boten zu Artus gesandt hatte. Warum nur immer Neid, Mißgunst und Unverstand? Artus war ein guter und gerechter König. Talivan konnte nicht verstehen, aus welchem Grund jemand diesen König stürzen wollte. Sollte es denn immer wieder Kriege geben? Die Leidtragenden waren die Schwachen: die Kinder, Frauen und Alten und die Tiere. Ländereien wurden verwüstet, ohne Rücksicht, ohne Voraussicht! Dahinter stand Verlangen nach Reichtum. Dabei gab es wahren Reichtum doch allein im Herzen! Er konnte einzig bei sich selber anfangen, den Frieden zu leben! Er war froh, daß er durch seine frei denkende Familie und seine bedeutsamen Erlebnisse ein friedliches Denken in sich trug. Aus dieser Denkweise ergab sich seine Ehrfurcht vor jeglichem Geschöpf und jeglicher Lebensweise. Er schmunzelte. Nicht selten wurde er ob seiner weichlichen Denkweise schief angesehen. So dachten nur Frauen, keine Männer und erst recht keine Krieger! Aber er wollte kein Krieger sein, und das gab ihm das Recht so zu denken. Natürlich gab es nur eine Wahrheit, doch es gab viele Wege dorthin!. Gleiches Recht für alle. Im selben Augenblick wurde er sich der Widersinnigkeit dessen bewußt. Wo war denn das gleiche Recht für Unfreie oder Leibeigene? Sie kamen mit anderen Rechten auf die Erde als in den Adel Hineingeborene. Oder die Frauen? Wenn sie nicht genügend Rückgrat mitbrachten, dann hatten sie mancherorts weniger Rechte als ein Unfreier. Er konnte nicht glauben, daß dies in der Absicht der Schöpferkraft lag. Kein Mann war fähig, ohne eine Frau ein Kind in die Welt zu setzen, also gehörten sie doch untrennbar zusammen und hatten somit die gleichen Rechte. Ein bißchen Muskelkraft mehr machte die Männer glauben, über alles herrschen zu können, was schwächer war.
Talivan setzte sich in seinem Bett auf und reckte sich. In seiner Kammer war es kalt. Kein Wunder, denn der Winter kam unaufhaltsam näher. Er versuchte, seine vielen mißmutigen Gedanken zu vergessen. Heute war ein neuer Tag! Eine Gelegenheit mehr, aus seinem Leben das Beste zu machen. Raban saß wie immer oben auf dem Gestänge des Bettvorhangs. Er brabbelte leise vor sich hin. Als er merkte, daß Talivan ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, hopste er hinunter auf das Bett und ließ sich von ihm unter dem Schnabel kraulen. Nach einer Weile gab ihm Talivan einen liebevollen Klaps, das sichere Zeichen, daß die Streichelstunde beendet war. Raban flog wieder auf das Bettgestänge, während Talivan nach seinem wollenen Untergewand griff. Die Luft war feucht, er sah seinen Atem. Schnell streifte er sich das Untergewand über. Während er seine Decke zur Seite auf´s Bett warf, schob er sich an die Bettkante, um seine Stiefel überzuziehen. Sein Obergewand greifend, hob er mit der anderen Hand seinen Gürtel auf, der von der Bettkante heruntergefallen war. Er knüllte alles zu einem Bündel zusammen und ging hinaus in den Gang, der zur Zeit völlig im Dunkel lag. In der Halle bereiteten unausgeschlafene Mägde und Knechte das Frühstück vor. Talivan grüßte sie freundlich, als er an ihnen vorbei hinaus in den Hof zum Brunnen ging.
Er zog seine Stiefel und das Untergewand wieder aus, um es mit den anderen Sachen auf den Brunnenrand zu legen. Er griff, die Luft anhaltend, nach dem Eimer Wasser, der für ihn bereitstand und goß ihn prustend über sich aus. Jetzt war er wach! Jemand reichte ihm ein Leinentuch zum Trocknen hin.
„Hier!“
Talivan lächelte seinen Bruder Gavannion an. Nachlässig wischte er sich erst sein Gesicht ab, ehe er flüchtig seinen Oberkörper und seine Arme, Lenden und Beine trocknete. Grinsend gab er Gavannion das Tuch zurück.
Gavannion konnte seine Gefühle kaum verbergen. Er hatte jeden Morgen erneut Schwierigkeiten, mit dem Anblick seines Bruders umzugehen. Ihm stieg die Galle hoch, doch er unterdrückte seine Rachegefühle. Er verstand Talivan nicht, der sich anscheinend mit allem abgefunden hatte.
Talivan zog sich an. Er kannte diesen Blick von Gavannion, doch er war nicht bereit, darauf einzugehen. Er wollte nur vergessen, weiter nichts. Rachegefühle halfen ihm nicht dabei, denn er hatte seine Peiniger nicht einmal gesehen. An wem sollte er also seine Rache verüben?
Gavannion zog sich ebenfalls einen Eimer Wasser herauf. Er entkleidete sich und wiederholte die Waschung.
Talivan reichte ihm das Leinentuch, während er sich die feuchten Haare aus dem Gesicht strich. „Hat irgendeiner ein Wort von Abreise verlauten lassen?“
Gavannion schüttelte den Kopf. „Sie fühlen sich sehr wohl!“ .
„Was muß ich denn tun, um sie rauszuekeln?“ Talivan schüttelte unwillig den Kopf, und seine Haare landeten wieder im Gesicht.
Gavannion, der sich anzog, war inzwischen bei den Stiefeln angelangt. Talivan zog eine Grimasse, was sein vernarbtes Gesicht unschön verzerrte. Gavannion blickte hastig zur Seite, weil er Angst hatte, daß Talivan den Schmerz sah, den er bei seinem Anblick empfand.
„Die fressen unsere Wintervorräte weg. Sodelb sagt nichts, ich sehe es an ihrem Blick. Außerdem lassen die Kerle die Mägde nicht in Ruhe!“ sprach Talivan weiter.
Gavannion schaute ihm ins Gesicht, er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. „Vielleicht können wir sie mit einer List fortlocken?“
Talivan zuckte die Schultern. „Darin bin ich nicht so gut.“
„Laß uns nachher darüber reden, wenn du zurück bist. Unter Umständen ist Morcant bereit, einen Köder zu fressen! Ich habe da schon einen Einfall.“
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