Plötzlich lenkte Alistair Beira nach links und sie kamen auf einen breiteren Weg, der ins Landesinnere führte. Die Gegend wurde zunehmend hügeliger und Sean fragte sich, ob dies schon die Ausläufer der Grampian Mountains wären. Von diesem weit ausgedehnten Gebirge aus Granit, Gneis, Marmor und anderen Gesteinen hatte ihm einmal Mr. Sutton erzählt. In dem Gebirge war auch Ben Nevis zu finden, der mit seinen 4413 Fuß 17als höchster Berg Schottlands über der Landschaft thront.
Eine Weile mussten sie leicht bergauf reiten, bis am Horizont ein Wald auftauchte. Scheinbar war dieser ihr Ziel.
Sean schaute angestrengt in Richtung Wald und erkannte beim Näherkommen schließlich, dass es sich größtenteils um Kiefern und Eiben handelte. Sein Vater erzählte ihm, dass es früher in der Gegend weit ausgedehnte Wälder gab, diese aber wegen zunehmendem Ackerbau und der Gewinnung von Weideland immer mehr abgeholzt wurden. Sean war nicht oft im Wald, aber er hatte die Abbildungen in den Büchern aus der Bibliothek studiert.
„Vater, was bedeutet eigentlich Clan ?“, fragte Sean. Er hatte das Wort schon so oft gehört oder gelesen, aber bisher noch nicht näher darüber nachgedacht.
„Das ist so etwas wie eine große Familie. Es gibt überall Clans in den Highlands. Ich habe einmal gehört, dass es fast 200 Clans sein sollen. Sie gehen auf die alte keltische Stammeszugehörigkeit zurück.“
„Ja“, nickte Sean. „Von den Kelten habe ich schon einmal gelesen. Sie besiedelten vor vielen Jahrhunderten unser Land.“
Alistair nickte.
„An der Spitze jedes Clans gibt es den Clanchief. Er ist dem König direkt unterstellt, muss ihm militärisch dienen und sowohl einen Teil der Ernte als auch des Viehs an ihn abgeben. Er hat außerdem mehrere Lehnsmänner unter sich, die ihm auch etwas abgeben müssen. Das Land und der Titel des Clanchiefs wird an seine Söhne weitervererbt.“
„Und was sind Lehnsmänner?“
„Die Tacksmen bewirtschaften gemeinsam ihr Lehen, ihr Stück Land, das sie sich vom Clanchief ausgeliehen haben.“
„Seid Ihr denn der Clanchief vom McCunham-Clan, Vater?“
„Ja. Unser legendärer Ahne Cináed Afton hat vor mehreren Jahrhunderten unser Land erworben und den Clan gegründet. Er entwarf unser Wappen und beeinflusste das Tartan-Muster.“
„Von ihm hat mir Großmutter erzählt“, sagte Sean.
Ihm war das Wappen mit dem Seehund und den drei Wellen sehr bekannt. Man konnte es an vielen Stellen im Dunnottar Castle finden. Sean hatte schon oft die darauf dargestellten Tiere an der Küste der Old Hall Bay im Süden des Castles beobachtet. Und ebenso kannte er den leuchtenden Stoff aus dunkelblauen und orangen Karos des Tartans. Unter anderem war seine warme Weste daraus gemacht.
„Du wirst eines Tages auch das Oberhaupt vom McCunham-Clan sein, mein Sohn“, sagte Alistair stolz.
Sean wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Nachdenklich ritt er weiter.
Die Jäger tauchten in die stille, fast märchenhafte Atmosphäre des Waldes ein. Der Regen kam nicht mehr bis zum Boden, der mit Heidekraut bewachsen war. Es roch feucht und erdig. Sean liebte diesen Geruch. Er war gespannt, was nun passieren würde.
Sie ritten tiefer in den Wald hinein. Bald bogen sie vom Weg ab, gerieten an den Rand einer Lichtung und hielten an. Die Jäger spannten ihre Armbrüste und legten den ersten Bolzen auf. Es war sehr still. Die Pferde und Hunde schienen darauf trainiert zu sein, ruhig zu bleiben. Nur einzelne Vögel konnte man hier und da hören. Sean kam es vor wie eine Ewigkeit, es passierte nichts.
„Wie lange müssen wir noch warten?“, fragte er seinen Vater ungeduldig.
„Pst! Sei leise!“, antwortete dieser nur knapp.
Beleidigt streichelte Sean seine Stute. Irgendwie hatte er sich eine Jagd anders vorgestellt, auf jeden Fall spannender und aufregender.
Plötzlich wurden die Hunde unruhig. Sean lauschte und sperrte seine Augen auf. Auch Vika schien etwas zu spüren. Er hielt die Zügel straffer.
Auf einmal rannten Friseal und die anderen Hunde los, die Pferde hinterher. Sean wäre fast von Vikas Rücken gefallen und konnte sich gerade noch am Zügel festhalten. Es ging nun alles sehr schnell. Sean hatte gar kein Tier gesehen, das sie jagen konnten. Gefährlich und rasant ging es durch das Dickicht. Sean hatte keine Kontrolle mehr über sein Pferd. Er wurde ordentlich durchgerüttelt und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Nach einem wilden, für ihn unendlich scheinenden Ritt wurde Vika langsamer. Sean konnte wieder Atem holen. Er bemerkte, dass sich seine Finger so verkrampft am Zügel festhielten, dass es wehtat. Sean schaute sich um und konnte niemanden sehen, doch die Hunde bellten. Er lenkte seine Stute in diese Richtung und sah dann zum Glück seinen Vater und die anderen Jäger. Sie bildeten einen Kreis und Sean konnte nicht sehen, was in dessen Mitte lag. Die Hunde bellten und hüpften wie verrückt.
„Sean, komm her!“, rief sein Vater. „Schau, ich habe einen Hirsch erlegt!“
Benommen stieg Sean ab und lief zum Kreis. Da erblickte er einen frisch geschossenen, relativ großen Rothirsch. Sean zählte zehn Geweihenden. Es war ein wunderschönes Tier. Die anderen Jäger nickten anerkennend.
„Das wird eine schöne Trophäe. Ich zeige dir, wie wir ihn zerlegen und ausnehmen“, sagte Alistair stolz.
Sean war enttäuscht. Er hatte überhaupt nichts mitbekommen! Halbherzig schaute er zu, wie die Jäger das Fell abzogen, das Geweih abtrennten, die Innereien im Wald vergruben und den Körper zerteilten. Sie verstauten alles auf verschiedenen Pferden.
Für Sean, der dachte, dass die Jagd nun zu Ende wäre, wurde es ein langer Tag. Der Jagdhunger war noch nicht gesättigt und die Männer ritten noch bis zum Abend im Wald herum, lauerten und erlegten einige weitere Tiere. Zum Schluss waren die Pferde schwer mit drei Rothirschen, einem Reh, zwei Kaninchen und fünf Birkhühnern beladen. Die Jäger ritten erschöpft und zufrieden nach Hause.
Einer war nicht zufrieden. Sean fand die Jagd alles andere als spannend und wollte auf keinen Fall noch einmal mitkommen. Aber er freute sich auf die leckeren Wildbraten, die es in den nächsten Tagen geben würde.
Neun
- 1692 -
Aufgeregt rannte Sean den Gang entlang zum großen Salon. Sein alter Freund Angus hatte ihm gesagt, dass seine Eltern ihn unbedingt sprechen wollten. Sean dachte freudig, dass es um seinen morgigen 13. Geburtstag ginge und er beeilte sich sehr.
Als er den Salon erreichte, traf er seine Eltern zusammengesunken vor dem Kamin an, in dem das Feuer ungerührt prasselte. Seans Herz setzte zwei Schläge aus. Was ist denn passiert?, fragte er sich.
Alistair bemerkte Sean und erhob sich mühsam. Er nahm die beiden Hände seines Sohnes und schaute ihm lange und traurig in die Augen. Dann räusperte er sich und sagte mit belegter Stimme:
„Sean, mein Lieber. Deine Großmutter ist heute Nacht von uns gegangen.“
Sean trat entsetzt einen Schritt zurück. Er rang nach Luft, seine Augen waren weit aufgerissen. Tränen schossen seine Wangen hinab. Dann drehte Sean sich um und rannte aus dem Salon.
„Sean!“, rief sein Vater und lief ihm schnellen Schrittes hinterher. Ohne zu klopfen trat er in das Gemach seines Sohnes und fand seinen Jungen schluchzend auf dem Bett liegen. Alistair setzte sich betrübt neben ihn und streichelte sanft seinen Rücken. So saß er, bis sich Sean etwas beruhigt hatte und sich seinem Vater zuwandte.
„Warum?“, fragte Sean nur und blickte Alistair aus traurigen, geröteten Augen an. Er sah, dass auch sein Vater geweint hatte. Eine Welle tiefer Liebe durchströmte Sean und er umarmte seinen nach außen meist so gefühlskalten Vater lange. Er fragte sich verzweifelt, wer das tiefe Loch stopfen könnte, das der Tod seiner liebevollen Großmutter in sein Herz gerissen hatte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte bei dieser Umarmung auf, Sean fühlte sich bei seinem Vater geborgen.
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