Einzig und allein der Mensch ist unter allen Erscheinungen des Willens zum Leben von einem so hohen Grad an Erkenntnis geprägt, dass er eine absolute und reine Spiegelung des Wesens der Welt darstellt. Aber er ist sich bewusst, dass er als endliches Individuum sich in einem unendlichen Raum und einer unendlichen Zeit befindet, sodass die Erkenntnis seines Wesens immer nur relativ und niemals absolut sein kann: ‚sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. – Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart‘.“
„Es tut mir leid, mein lieber Arthur, aber hier kann ich dir auf gar keinen Fall folgen, denn deine letzten Ausführungen kommen mir jetzt doch zu sehr in die Nähe des Religiösen und du weißt ja, dass ich die Religion einmal als Opium fürs Volk bezeichnet habe und dieser Überzeugung bin ich nach wie vor.
In unserer modernen Gesellschaft haben sich die Produktionsmittel in wenigen Händen konzentriert, wohingegen die Produktionskräfte, die den Mehrwert erzeugen und für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt sorgen, einzig und allein in den Händen der Arbeiter, des Proletariats liegen. Der moderne Arbeiter kann jedoch nur so lange leben, wie er Arbeit findet, ist also vollkommen abhängig von der Bourgeoisie, der er seine Arbeit stückweise als Ware anbieten muss.
Die Bourgeoisie ihrerseits bezahlt diese Ware jedoch so schlecht, dass die Arbeiter im Vergleich zu ihnen ein elendes Leben führen müssen. Damit die Arbeiter nicht eines Tages ihr Elend gewaltsam beenden, indem sie die Eigentümer der Produktionsmittel enteignen, werden sie von den Herrschenden auf einen Sankt Nimmerleinstag vertröstet, an dem sie angeblich das große Glück erwartet. Die Religion ist also nichts weiter als ein Machtinstrument der Herrschenden zur Unterdrückung des Proletariats.“
„Da hast du vollkommen recht, mein Eigentum ist immer dasjenige, das durch meine eigenen Kräfte bearbeitet wurde und deshalb ist die Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats in jedem Fall ein Unrecht. Außerdem sprichst du einen anderen wesentlichen Punkt an, mein lieber Karl, nämlich das große Glück, nach dem angeblich alle Menschen streben; das Glück ist aber nichts weiter als die Befriedigung eines Wunsches, also die Beseitigung eines Mangels. Sobald dieser Wunsch erfüllt, also der Mangel beseitigt ist, hört natürlich auch der Wunsch auf zu existieren, sodass das Glück ebenfalls endet. Das Glück ist nichts weiter als die Befreiung von einem Mangel, von einem Schmerz, von einem Leiden, ist immer nur von negativer Natur und kann niemals von Dauer sein. Wenn man das ständige Streben nach Glück insgesamt betrachtet, ist es doch nichts weiter als nur ein Trauerspiel.
Aber ich möchte noch einmal zurückkommen auf meine Ausführungen über die Bejahung des Willens zum Leben, die natürlich auch die Bejahung des Leibes bedeutet; obwohl das Streben nach Glück immer mit der Beseitigung eines Mangels gleichzusetzen ist, bleibt deshalb dem Individuum doch nichts anderes übrig, als ständig seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu gehört natürlich auch die Befriedigung des Geschlechtstriebes, wodurch nicht nur die eigene Existenz, sondern das Leben über den Tod des Individuums hinaus bejaht wird, sodass man sagen kann, dass die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens sind. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist also nichts weiter als die Bejahung des Willens zum Leben, wohingegen sexuelle Enthaltsamkeit die Verneinung des Willens zum Leben bedeutet.“
„Jetzt erinnerst du mich doch schon wieder an die Religion, genauer gesagt an den Kirchenlehrer Augustinus von Hippo, diesen Heuchler, der sich den sexuellen Freuden über viele Jahre seines Lebens mit vielen Frauen hingegeben hat, nur um am Ende anderen Menschen diese Freuden zu verbieten, indem er diese natürlichen Freuden des Lebens als Begierlichkeit des Fleisches bezeichnete, die denjenigen Verderben bringt, die sich ihr hingeben. Doch damit nicht genug, er spricht sogar von der Begierlichkeit der Augen, worunter er auch die Erkenntnis und die Wissenschaft versteht.“
„Ja, das sind diese Moralapostel, die für ihre Moral überhaupt keine rechte Begründung haben, und eine solche Moral kann die Menschen auch nicht motivieren, sich daran zu halten. Eine Moral kann nur dann wirken, wenn sie sich an die Eigenliebe des Menschen wendet, aber dann wiederum hat sie überhaupt keinen moralischen Wert; es kommt vielmehr darauf an, dass der Mensch in seinem Gegenüber dasselbe Wesen erkennt wie in sich selbst, deswegen sprechen wir ja auch von Mitmenschen. Wer also seine Mitmenschen behandelt wie sich selbst, der besitzt wahre Tugend.“
„Nun, grundsätzlich kann ich dir da zustimmen, ich würde nur nicht von Tugend, sondern von Solidarität sprechen. Die Arbeiterklasse kann ihr eigenes Elend nur beenden, wenn sie solidarisch miteinander sind und sich gemeinsam gegen die Bourgeoisie auflehnen, um sich das Eigentum an ihrer Arbeitskraft zurückzuholen. Aber ich glaube, wir haben für heute genug philosophiert. Wenn du damit einverstanden bist, würde ich gerne noch ein wenig schlafen, da ich morgen schon sehr früh nach London zurückfliege. Ich verspreche dir, dass ich nicht wieder Jahre vergehen lasse, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen. Die Diskussionen mit dir sind einfach immer sehr spannend und ich merke erst jetzt, dass ich sie wirklich vermisst habe.“
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