Einig waren sich Karl und Arthur eigentlich nur in der Überzeugung, dass es nichts Übersinnliches gebe, also Begriffe wie ‚das Absolute‘, ‚das Unendliche‘, ‚der Urgrund‘ lehnte er vollkommen ab und bezeichnete dies als ‚Gefasel‘ und als ‚Wolkenkuckucksheim‘. Nach seiner Überzeugung gab es in dieser Welt weder ein ‚Woher‘, noch ‚Wohin‘, noch ‚Warum‘, sondern ausschließlich ein ‚Was‘, das nach dem ewig gleichen Wesen der Welt fragte und dieses ewig gleiche Wesen war für ihn der ‚Wille‘ oder auch der ‚Wille zum Leben‘, was für ihn absolut identisch war, und die sichtbare Welt war für ihn nur ein ‚Spiegel des Willens‘, sodass auch das Individuum nur eine vorübergehende Erscheinung des Willens zum Leben ist: Es kommt aus dem Nichts und kehrt durch den Tod in das Nichts zurück, ohne dass sich dadurch an dem Willen zum Leben irgendetwas ändern würde. Raum, Zeit und Kausalität sind lediglich die Bedingungen unter denen der Wille zum Leben sichtbar wird, ohne dass Geburt und Tod, also diese Individuation des Willens zum Leben in irgendeiner Form den Willen selbst berühren würde, da es der Natur vollkommen egal ist, ob ein Individuum stirbt oder nicht.
Karl fuhr mit dem Intercity bis zum Frankfurter Hauptbahnhof, wo er in den Regional-Express zum Ostbahnhof umstieg und von dort nahm er ein Taxi in die Schöne Aussicht, wo Arthur wohnte. Nachdem er mehrmals vergeblich bei Arthur geklingelt hatte, sah er ein, dass es wohl doch besser gewesen wäre, seinen Besuch anzukündigen. Doch da es noch früh am Nachmittag war und die Sonne vom Himmel strahlte, schlenderte er über die Alte Brücke hinüber zum Portikus, der Ausstellungshalle der Frankfurter Städelschule auf der Maininsel; er hatte gehört, dass dort eine kanadische Künstlerin namens Hajra Waheed eine beeindruckende Klanginstallation eingerichtet hatte.
Schon beim Betreten des Portikus wurde klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Ausstellung handelte, denn Karl wurde gebeten, seine Schuhe auszuziehen; der unmittelbare Kontakt zu dem weichen Teppich, verbunden mit den wunderschönen mysteriösen Klängen, versetzte ihn sofort in eine andere, eine sakrale Welt. Aus den von der Decke hängenden Lautsprechern ertönten die Stimmen von Frauen und Männern, die die einzelnen Melodien summten, doch obwohl auf diese Weise eine himmlische Atmosphäre geschaffen wurde und Karl sich deren Schönheit nicht entziehen konnte, war sehr schnell klar, dass es hier durchaus um gesellschaftliche Probleme ging, um Unterdrückung und Widerstand, genau das Thema, mit dem Karl sich sein Leben lang beschäftigt hat.
Es handelte sich um kurdische Volkslieder, die daran erinnerten, dass Menschen in der Türkei für Jahrzehnte ins Gefängnis kamen, nur weil sie sich bei öffentlichen Auftritten ihrer Muttersprache bedient hatten. Es ging um die Rohingya in Myanmar, denen man die Staatsbürgerschaft verweigert und die deshalb Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt sind, sodass sie sich ständig auf der Flucht befinden und der Internationale Gerichtshof in Den Haag sogar von Völkermord gesprochen hat. Es ging um die Bürgerbewegungen in der arabischen Welt genauso wie um pakistanische und sudanesische Revolutionsdichter und Sänger.
Karl hatte den Eindruck, sich in einer anderen Welt zu befinden und diese Klänge vermittelten ihm das Gefühl, dass es eine andere Möglichkeit geben könnte, eine Welt, in der Frieden und Gerechtigkeit herrschte, eine humane Welt, die nicht von Gewalt, Brutalität, Schmerz und Unterdrückung geprägt war. Auch wenn er das Wort in seinen von Sachlichkeit geprägten politischen und wirtschaftlichen Analysen nicht sehr schätzte, so hatte er doch in dieser harmonischen Atmosphäre das Gefühl, dass die Liebe eine Chance verdient hatte, dass es vielleicht doch die Möglichkeit gab, all das Hässliche in der Welt zu überlieben.
Eine ganze Stunde war Karl schon gedankenverloren durch diese Klanginstallation geschwebt, als er glaubte, in diesen sphärischen Klängen seinen Namen zu hören, erst ganz leise, so als gehörte er zu diesen Klängen, doch allmählich wurde die Stimme immer lauter, sodass er schließlich aus seinen Träumen in die reale Welt zurück geholt wurde; er drehte sich um und konnte es kaum fassen: hinter ihm stand sein Freund Arthur, der genau wie er selbst außerordentlich überrascht war, hier so unvermittelt auf seinen Freund zu treffen. Nach einer kurzen von körperlicher Distanziertheit geprägten Begrüßung verließen sie gemeinsam den Portikus, denn in diesen heiligen Hallen waren Unterhaltungen natürlich nicht erwünscht.
Nachdem Karl und Arthur gemeinsam einen Spaziergang am Main entlang gemacht und anschließend in einem nahe gelegenen Restaurant zu Abend gegessen hatten, verbrachten sie den Rest des Abends bei einem Glas Wein in Arthurs Wohnung.
„Ich habe dir ja schon bei unserem letzten Treffen erklärt, dass ich der Überzeugung bin, dass nur der Spiegel des Willens, also die sogenannte reale Welt dem Gesetz vom vierfachen Grund unterworfen ist, nicht aber der Wille selbst; die Erscheinung des Willens ist eine Individuation unter den Bedingungen von Raum, Zeit und Kausalität. Diese Realität gibt es allerdings nur in der Gegenwart, denn noch nie hat ein Mensch in der Vergangenheit gelebt und es wird auch niemals ein Mensch in der Zukunft leben, Leben findet immer nur in der ausdehnungslosen Gegenwart statt. So wie dem Willen das Leben, so ist dem Leben die Gegenwart vollkommen sicher, Leben bedeutet Gegenwart ohne Ende, ich zitiere aus meinem letzten Aufsatz: ‚Wen daher das Leben, wie es ist, befriedigt, wer es auf alle Weise bejaht, der kann es mit Zuversicht als endlos betrachten und die Todesfurcht als eine Täuschung bannen, welche ihm die ungereimte Furcht eingibt, er könne der Gegenwart je verlustig werden‘.
Während also die einzelne Erscheinung des Willens zum Leben anfängt und wieder aufhört, bleibt doch der Wille zum Leben an sich davon unberührt, er ist zeitlos und der Tod hebt lediglich die Täuschung wieder auf, die die Individuation von dem Willen an sich trennt.“
„Mein lieber Arthur, wenn das stimmen würde, was du da sagst, dann gäbe es ja gar keine historische Entwicklung und es wäre für den Einzelnen auch vollkommen sinnlos, seine Zukunft zu planen und das kann ich auf gar keinen Fall akzeptieren. Du warst doch auch gerade in der Ausstellung im Portikus. Ist dir denn da nicht deutlich geworden, dass es in dieser Welt ungeheure Ungerechtigkeiten gibt, die man auf gar keinen Fall einfach akzeptieren darf; vielmehr, und das haben ja gerade diese revolutionären Dichter und Sänger deutlich gemacht, kommt es darauf an, sich gegen die Unterdrücker in dieser Welt zu wehren und wenn es sein muss, auch mit Gewalt zu wehren. Es ist zwar richtig, dass wir nur in der Gegenwart leben können, aber unser Verhalten in der Gegenwart bestimmt unsere Zukunft, die wir eines Tages als Gegenwart erleben werden.“
„Es kommt nicht auf irgendwelche gesellschaftlichen Veränderungen an, sondern darauf, mein eigenes Wesen anhand meiner Individuation zu erkennen und zu bejahen und also den vorher ohne Bewusstsein existierenden Willen zum Leben durch die Erkenntnis zu bereichern und mein Leben als von mir gewollt zu betrachten, sodass der blinde Drang nun durch Bewusstheit ersetzt wird. Wenn jedoch nach der Erkenntnis das eigene Wollen endet, so handelt es sich um die Verneinung des Willens zum Leben, mit anderen Worten, der Wille ist vollkommen frei, sodass er auch die Möglichkeit hat, sich selbst aufzuheben.“
Wie ich bereits sagte, hat in der Natur, in der Welt der Erscheinung alles einen Grund und eine Folge, es gilt uneingeschränkt der Satz vom Grunde, da der Wille zum Leben, also das Ding an sich, gar nicht in Erscheinung tritt, ist er auch nicht dem Satz vom Grunde unterworfen, er kennt weder Grund noch Folge, für ihn gibt es absolut keine Notwendigkeit, sodass er vollkommen frei ist, denn die Freiheit ist ja nichts anderes als das Nichtvorhandensein einer Notwendigkeit, wie ich auch geschrieben habe ‚Jedes Ding ist als Erscheinung, als Objekt, durchweg nothwendig: dasselbe ist AN SICH Wille, und dieser ist völlig frei, für alle Ewigkeit‘.
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