Er konnte es zwar nicht leugnen, dass er immer noch nicht die Beziehung zu seiner Mama verarbeitet hatte, doch das war schließlich keine Krankheit. Einerseits liebte er seine Mama Monnica und er war ihr außerordentlich dankbar, weil sie sich ihr ganzes Leben lang um ihn gekümmert hatte. War sie es doch, die ihn aus der Irrlehre des Manichäismus befreit hatte und sie hatte auch in den Jahren seines lasterhaften Lebens zu ihm gehalten, obwohl es ihr so manches Mal die Tränen in die Augen getrieben hatte, wenn sie sah, dass sein einstiges Leben von Diebstählen, Lügen und vor allem der Raserei der Lust geprägt war.
Sie hatte es wirklich nicht verdient, dass er sie so kläglich hinterging, als er ohne sie nach Rom abreisen wollte. Da sie ihn einfach nicht loslassen wollte, hat er sie getäuscht und belogen und fuhr heimlich in der Nacht fort und am nächsten Morgen stand sie fassungslos vor Schmerz mit Klagen und Seufzen an der Küste, denn sie hing ja nach Art der Mütter an ihrem Beisammensein mit ihm und trotz seiner Falschheit und Grausamkeit betete sie wieder für ihren Sohn. Liebesstark im Glauben ist sie Gott sei Dank dann später jedoch, als er schon in Mailand war, mit seinem Bruder nachgekommen und sie waren wieder vereint.
Im Gegensatz zu Karl alias Augustinus, der in seinen frühen Jahren dem Alkohol sehr zugetan war und dem das Loblied der Nüchternheit genauso zum Ekel war, wie der wassergemischte Trunk dem Säufer, hatte bei seiner Mama die Trunksucht keinerlei Macht über ihren Geist.
Andererseits hatte seine Mama dafür gesorgt, dass die Beziehung zu seiner über alles geliebten Aemilia beendet wurde, wodurch auch seinem Sohn Adeodatus die Mutter genommen wurde und das konnte er ihr auf keinen Fall verzeihen. Die Wunde, die die Trennung von der Geliebten geschlagen hatte, wollte nicht heilen und schmerzte noch lange, weshalb er sich auch sogleich nach der Trennung als ein Sklave der Lust einer anderen Frau hingab, um die Sucht seiner kranken Seele nicht nur zu befriedigen, sondern sie in üppigen Orgien bis zur Ekstase zu steigern, wodurch sich der wühlende Schmerz über den Verlust der Geliebten von einer Entzündung in Fäulnis verwandelte.
Fressen, Saufen und Huren, das war sein Leben, er konnte sich gar nicht erinnern, mit wie vielen Frauen er es getrieben hatte, selbst als er schon mit seiner Geliebten Aemilia zusammen war, hatte er immer wieder Beziehungen zu anderen Frauen gehabt. Aber selbst mit Aemilia war er ja nicht verheiratet, da sie für ihn nicht standesgemäß war; er lebte also mit ihr in einer unzüchtigen Beziehung. Karl, alias Augustinus, war froh, dass seine Mutter seine Bekehrung noch erleben durfte, andererseits war er sehr traurig, dass sie viel zu früh gestorben war.
Aber es war keine Frage, ohne seine Mama wäre sein Leben vollkommen anders verlaufen, obwohl der eigentliche Wendepunkt in seinem Leben einen anderen Grund hatte, den er wohl niemals vergessen wird, diese Kinderstimme, die ihm immer und immer wieder sagte: Tolle, lege! Und was las er dann in der Heiligen Schrift:
Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.
Karl alias Augustinus wunderte sich doch sehr über all diese Gedanken, weshalb er den übrigen Teil der Nacht wach auf seinem Bett liegen blieb. Er stellte fest, dass all diese Bilder in seinem Gedächtnis noch sehr lebendig waren und sie in ihm immer noch ein außerordentliches Wohlgefallen verursachten, besonders im Schlaf konnten diese Bilder ihm Gefühle vermitteln, derer er im wachen Zustand nicht fähig war. Dann fragte er sich: „Bin ich dann nicht ich? Wahrhaftig solch ein Unterschied ist zwischen mir und mir, dass die gesehene Wirklichkeit mir vollkommen gefühllos erscheint.“
Am nächsten Morgen machte er sich gleich nach dem Frühstück an die Lektüre von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ von Friedrich Nietzsche und er stellte natürlich sehr schnell fest, dass Carl ihn mit dieser Schrift offensichtlich nur provozieren wollte. Da behauptet zum Beispiel dieser Nietzsche, dass ‚der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist‘. Einen solchen Unsinn konnte doch nur jemand schreiben, der die Gaben des Heiligen Geistes nicht empfangen hatte.
Es wurde jedoch noch grotesker, wenn Nietzsche aussagt, dass der Glaube daran, dass ein Gott das Schicksal der Welt bestimme, längst nicht mehr existiere und dass deshalb ‚die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Welt umspannende Ziele stellen‘ müsse. Mehr noch, er behauptet sogar, dass möglicherweise im Interesse der Bedürfnisse der Menschheit ‚unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen‘ seien. Was war das nur für ein verderbter Mensch, der solche Lügen und Irrtümer in die Welt setzte. Man musste sich wirklich fragen, ob solche Frechheiten wirklich verbreitet werden durften. Er selbst hatte ja persönlich ein Erweckungserlebnis gehabt und nur durch die Kraft seines Glaubens konnte er sein liederliches, sündhaftes Leben beenden und zu einem gottgefälligen Leben übergehen.
Schließlich kommt jedoch noch der absolute Höhepunkt in den Ausführungen von Nietzsche, wenn er dazu auffordert, alle Vorstellungen über ‚die christliche Seelennot, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil‘ zu vernichten, weil es sich hier um Vorstellungen handle, die auf Irrtümern der Vernunft beruhen. Wie konnte er nur jemals behaupten, dass der ‚Glaube an Wert und Würdigkeit des Lebens‘ ausschließlich auf unreinem Denken beruhe und dass ‚das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt‘ sei. Auch hier konnte Karl, alias Augustinus, aus voller Überzeugung sagen, dass es genau umgekehrt sei, nämlich dass das Denken dieses Herrn Nietzsche sehr schwach entwickelt sei.
Selbstverständlich ist es auch vollkommen falsch, dass der junge Mensch sich gerne der Metaphysik zuwende, weil er durch sie die Möglichkeit habe, in den Dingen, die er an sich selbst missbilligt, „das innerste Welträtsel oder Weltelend“ zu erkennen. Es war einfach falsch, dass der Mensch auch durch historische Erkenntnisse das Interesse am Leben und seinen Problemen gewinnen könne. Nein, der Mensch war von Grund auf verderbt und nur durch die Gnade Gottes, so wie es auch bei ihm selbst geschehen war, konnte er sich zu einem guten Menschen wandeln. Nur wenn der Mensch seinen eigenen Willen aufgab, konnte er Gottes Willen erfüllen.
Nachdem Karl alias Augustinus den ganzen Aufsatz gelesen hatte, war ihm klar, dass es sich bei Nietzsche um einen Menschen voller Verachtung für die Menschen und die Welt und vor allem auch für Gott handle; er war ein Anwalt des Teufels und ein Feind Gottes, den man zum Schweigen bringen musste, seine Schriften sollten einfach verboten werden.
Karl alias Augustinus war nun bereit mit Carl über diese Schrift zu diskutieren und er würde ihm in aller Deutlichkeit sagen, dass er ihn in Zukunft bitte mit solchen gotteslästerlichen Schriften verschonen solle.
Kaum hatte Karl alias Augustinus wieder in Carls Arbeitszimmer Platz genommen, wurde Carl wegen einer wichtigen Angelegenheit aus dem Zimmer gebeten. Während Karl alias Augustinus sich im Zimmer umschaute, entdeckte er eine Mappe mit der Aufschrift „Karl Marx“ auf dem Schreibtisch und natürlich konnte er seine Neugier nicht zügeln, er ging um den Schreibtisch herum und schlug die Mappe auf.
Diagnose:
Dissoziative Identitätsstörung verbunden mit wesentlichen Anteilen einer Schizophrenie (endogene Psychose, Realitätsverlust, Wahnvorstellungen)
Bei Herrn Marx zeigte sich in der Vergangenheit eine rücksichtslose Männlichkeit und damit verbunden der Ehrgeiz, nach höchsten Zielen zu streben. Dies äußerte sich in einer Gewalttätigkeit gegenüber Dummheit, Verbohrtheit, Ungerechtigkeit und Faulheit. Er zeigte eine Opferwilligkeit für das als richtig Erkannte, die an Heroismus grenzt. Weiterhin konnte ich bei ihm beobachten Ausdauer, Unbeugsamkeit und Zähigkeit des Willens, Neugier, die auch die Welträtsel nicht schrecken und schließlich einen revolutionären Geist, der seinen Mitmenschen ein neues Haus baut oder der Welt ein anderes Gesicht aufsetzt.
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