Jakob war mittlerweile wieder zu Atem gekommen und blickte etwas verwirrt drein. Dann schien er der vertrackten Situation irgendwie gewahr zu werden, denn schließlich sagte er etwas umständlich: „Äh, nun ja, ich meinte, schön dass ihr beide zusammen ins Dorf kommt. Zu zweit. Ja. Obwohl ich ja nur mit Elisa gerechnet hatte. Hähä. Aber jetzt seid ihr beide ja hier und...“.
Elisas Unwohlsein wuchs. Sie kniff die Augen zusammen und fixierte ihren Onkel. Was sollte das bitte schön? Franz grinste immer noch, aber er begriff nun auch nichts mehr. Sein Pferd wieherte und zog kurzzeitig die Blicke auf sich. Musste der dämliche Gaul schon wieder so grinsen?
„Ihr zwei. Ja. Mann und Frau. Oh. Äh“, stammelte Jakob mit hochrotem Kopf.
Dann hatte er sich aber wieder im Griff, ging zu dem blonden Jüngling hin und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter: “Ach Franz, es wäre gut, wenn ich einmal mit der Elisa allein sprechen könnte. Du weißt schon. Vielleicht machst du dich schon mal mit deinem Pferd und deiner Karre allein auf den Weg ins Dorf. Es ist ja nicht mehr so weit und wir sehen uns dann ja gleich auf dem Fest.“
Der Franz wusste nicht so recht, wie ihm geschah, dann zuckte er jedoch mit den Achseln und trieb sein Pferd an. Polternd setzte sich der Karren in Bewegung. Elisa und Jakob blickten ihnen nach. Franz ging nun voraus, das Pferd und der Karren rumpelten hinterdrein. Nach einer Weile wurde das Rumpeln leiser und Franz befand sich gänzlich außer Hörweite.
Elisa wartete. In ihr brodelte es, aber sie sagte nichts. Sie blickte ihren Onkel nur ernst und grimmig an. All das, was nun kommen mochte; er sollte es wahrlich nicht leicht haben. Wenn er heute Abend eine Verlobung – ihre Verlobung – bekannt geben wollte, dann nur über ihre Leiche. Ihre Antwort stand fest und die würde sie auch nie in ihrem Leben ändern. Für niemanden, den sie kannte.
Ihr Onkel schaute immer noch dem Franz hinterher. Dabei kratzte er sich mit der Hand am Hinterkopf, so als sei er sehr verlegen. Dieses Gebaren kannte Elisa von ihm gar nicht. Aber an diesem Tag wunderte sie sich über nichts mehr. Langsam drehte sich Jakob zu ihr um und schaute seine Nichte an.
„Komm mit“, sagte er dann und ging ein Stück in Richtung Dorf. Elisa folgte ihm wortlos. Er steuerte auf eine kleine Bank am Wegesrand zu. Unweit davon lag ein Steinhaufen, den die Dorfbewohner über die Jahrzehnte hinweg aufgeschichtet hatten. Jakob ließ sich auf der Bank nieder. Elisa tat es ihm gleich. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann las Jakob einen Stein vom Boden auf und betrachtete ihn eingehend.
Schließlich begann er zu reden: „Das Leben ist schon seltsam. Sieh nur diesen Stein hier. Ein Quarzit. Vor langer Zeit waren das einmal Sandkörner, die ins Meer gespült wurden. Dort haben sie sich auf dem Grund des Meeres angesammelt. Mehr und mehr Körner kamen dazu. So ging es eine lange Zeit und weil obenauf immer mehr Körner hinzukamen, wurde der Sand zu Stein, zu Sandstein. Dann verging wieder eine lange Zeit. Der Sandstein wurde nochmals zusammengedrückt.
Die Sandkörner wurden noch mehr zusammengepresst und am Ende entstand dann dieser Quarzit. Aber es dauerte viele Menschenleben, bis er überhaupt einmal aus der Tiefe der Erde ans Tageslicht kam. Dort haben ihn dann unsere Mütter und Väter aus dem Boden herausgeschlagen und mit ihm ein Haus gebaut. Viele, viele Jahre haben sie darin gelebt – Eltern, Söhne, Töchter und Enkel – bis das Haus eines Tages zusammenfiel. Dann haben sie mit den anderen Steinen ein neues Haus gebaut. Nur diesen Stein hier, den brauchten sie nicht mehr und brachten ihn hierher auf die Wiesen, wo er nun neben so vielen anderen liegt und darauf wartet, dass mit ihm etwas Neues erschaffen wird.“ Jakob seufzte und holte tief Luft.
„Was denkst du?“, wandte er sich an seine Nichte. „Wenn er reden könnte, was würde er uns wohl zu sagen haben? Über uns. Über unsere Vorfahren. Er könnte so einige wundersame Geschichten erzählen. Er würde dir auch einige Dinge erzählen, die du vielleicht gar nicht begreifen könntest. Denn wir Menschen haben auch eine Geschichte. Eine Geschichte, die ich euch schon so oft erzählt habe und auch eine Geschichte, die ich dir noch nicht erzählt habe. Unser Leben war nicht immer so wie wir es heute führen. Die Menschen früher haben ein wenig anders gelebt als wir heute.“
Jakob geriet ins Stocken. Immer noch sah er seine Nichte nicht an. „Aber was uns und den Stein verbindet ist, dass es uns gibt. Den Stein und uns Menschen. Der Stein wird noch lange da sein...“, fügte Jakob noch hinzu und verstummte schließlich. Sein Blick wurde trüb und verlor sich in der Ferne.
Elisa hatte die ganze Zeit neben ihm gesessen und ihm zugehört. Aber sie hatte nicht wirklich begriffen, worauf er hinaus wollte. Was sollte das? Da ihr Onkel von alleine nicht mehr weiter zu reden schien, sah sie sich genötigt, eine Frage zu stellen: „Warum erzählst du mir das alles?“
„Weil Menschen manchmal Dinge sehen, die sie eigentlich gar nicht sehen sollten. Dinge, die sie nicht begreifen können“, gab er ihr zur Antwort. Dabei blickte er noch immer gedankenversunken auf die Steine. Nun war es an Elisa, vollends verwirrt zu sein. Wusste ihr Onkel, dass sie auf der Lichtung diesen Fremden gesehen hatte? Aber woher sollte er das wissen?
„Was meinst du damit?“, fragte sie ihn.
„Nun, die Dinge sind manchmal nicht so wie sie scheinen“, sagte er geheimnisvoll. „Leider auch nicht in unserer Welt hier. Glaub mir, wenn es einfach wäre, würde ich dir hier auf der Stelle alles erklären, aber das ist es nicht. Wenn die Zeit kommt, werde ich dir reinen Wein einschenken. Bis dahin, bitte hab Geduld und hadere nicht.“
Als er dies zu Elisa sagte, hatte er sich ihr zugewandt und schaute ihr direkt in die Augen. Die junge Frau blickte in seine tiefen, dunklen Augen. Sie hörte die Worte und sie sah ihn an. Für einen kurzen Augenblick war es ihr, als könne sie plötzlich tief in sein Innerstes sehen. Was sie sah, verwirrte sie, denn es war eine eigenartige Mischung aus Stärke, Schwäche, Angst, Vertrauen, Verzweiflung und Hoffnung. Wie konnte ein Mensch all das zugleich in sich tragen?
Es war das erste Mal für Elisa, dass sie ihren Onkel so sah. In diesem Augenblick erblickte sie in ihm einen Menschen voller Gefühle und Widersprüche. Seltsamerweise verwirrte und beruhigte sie diese Erkenntnis zugleich. Sie wusste, dass er ihr Erlebnis von heute kannte. Sie wusste nicht woher, aber sie stellte ihre Fragen fürs erste zurück. Sie würde warten, bis Jakob es ihr sagte. Also schwieg sie.
„Komm lass uns gehen“, forderte Jakob sie auf. „Die anderen warten schon. Das große Fest geht bald los“. Jakob nahm Elisas Hand, drückte sie fest und zog sie von der Bank hoch. Seite an Seite gingen sie nach Hause.
„Also willst du mich nicht mit dem Franz verloben?“, fragte Elisa, um zumindest in diesem Punkt Klarheit schaffen zu können.
„Was? Wie?“, stammelte Jakob völlig verdutzt. „Ach so. Ach je. Das habt ihr beide vorhin gedacht! Du und der Franz?! Aber nein, aber nein!“ Der Gedanke schien Jakob völlig abwegig, was Elisa sehr beruhigte. Obwohl die Vorstellung, wie der arme Franz mit einer Frau wie Elisa fertig werden wollte, schon auch etwas Amüsantes an sich hatte, fand Jakob. Er schüttelte den Kopf.
„Auf dich wartet etwas anderes“, sagte er. „Vielleicht wirst du dir später sogar einmal wünschen, lieber den Franz geheiratet zu haben. Aber so oder so. Auf dich wartet etwas anderes!“
Schon wieder sprach Jakob in Rätseln und da er nicht in der Stimmung schien, irgendwelche erhellenden Erklärungen zu liefern, stellte Elisa keine Fragen mehr. Sie wusste, dass sie heute keine Antworten mehr erhalten würde. Sie wusste nicht, wann sie überhaupt eine Antwort erhalten würde. Vor allem wusste sie in diesem Augenblick nicht, ob sie überhaupt eine Antwort erhalten wollte.
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